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Drei Flüchtlinge erzählen, wie es war, als Minderjährige zu fliehen.

Fluechtlinge auf dem Weg in das Sammelzentrum an der Slowenisch-Oesterreichischen Grenze im Gebiet von Spielfeld am Samstag, 21. November 2015. Regenwetter und sinkende Temperaturen stellen auch die E ...
Flüchtlinge auf dem Weg in das Sammelzentrum an der Slowenisch-Österreichischen Grenze im Gebiet von Spielfeld am Samstag, 21. November 2015.Bild: APA

Sie sind 2015 als Minderjährige in die Schweiz geflüchtet – drei Flüchtlinge erzählen

Tausende von Kindern und Jugendlichen sind in den letzten Jahren ohne Eltern in die Schweiz geflüchtet. Fern ihrer Heimat und Familie mussten sie sich in einem neuen Land zurechtfinden. Wie geht das? Drei junge Flüchtlinge erzählen.
08.11.2020, 12:4208.11.2020, 15:24
annika Bangerter / schweiz am wochenende
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Sie haben Krieg, Terror oder grösste Armut überlebt, Landesgrenzen sowie Meere überquert und eine Flucht ohne ihre Familie hinter sich: Kinder und Jugendliche, die allein aufgebrochen sind, um fernab ihrer Heimat Schutz zu suchen. Die Behörden nennen sie unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA).

Tausende von ihnen haben in den vergangenen Jahren in der Schweiz Zuflucht gesucht. Vor fünf Jahren kamen besonders viele an: 2736 Kinder und Jugendliche flüchteten 2015 ohne Eltern hierher.

Wie fanden sie sich ohne Mutter, ohne Vater in dem fremden Land zurecht? Wie schafften sie es, Wurzeln zu schlagen? Und wie gehen sie mit Traumata und Verlusten um, die kein Kind, kein Jugendlicher erleben sollte?

Drei inzwischen erwachsene junge Männer erzählen, wie sie in der Schweiz Fuss gefasst haben. Das gelingt nicht allen. Wie viele fernab der Heimat und der Familie ein neues Leben aufbauen können, sei nicht bekannt, sagt Erziehungswissenschaftler Peter Rieker. Immer wieder tauchen Jugendliche ab oder verschwinden. Sei dies, weil ihre Chancen auf Asyl gering sind oder weil sie unter grossem Druck stehen, ihrer Familie möglichst schnell Geld zu schicken.

«Sie leben im Verborgenen oder rutschen in die Illegalität ab. Somit bewegen sie sich in einem Graubereich, über den wir fast nichts wissen», sagt Rieker, der an der Universität Zürich ein mehrjähriges Forschungsprojekt zu unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen leitet.

Für die einen Befreiung, für die anderen Überforderung

Er betont, dass diese Jugendlichen keine homogene Gruppe darstellen. Vielmehr brächten sie ganz unterschiedliche Bedingungen mit und stammten aus verschiedensten Kontexten. «Wir raten dringend dazu, in jedem Kanton eine Varianz von Angeboten bezüglich der Unterbringung und Begleitung zu haben. Es gibt nicht die Lösung, die allen Jugendlichen gerecht wird», sagt Rieker.

Peter Rieker.
Peter Rieker.bild: uni zürich

Als Beispiel führt er zwei junge Geflüchtete an, die beide in derselben Gruppenunterkunft untergebracht wurden. Der eine stammte aus einem afrikanischen Land, hatte früh seine Eltern verloren und sich als Kind auf der Strasse durchgeschlagen. Seine Flucht dauerte mehrere Jahre. Für ihn sei die Unterkunft in der Schweiz eine Befreiung gewesen, sagt Rieker.

Anders für einen jungen Syrer, der behütet bei seinen Eltern in einem bürgerlichen Kontext aufgewachsen sei und per Flugzeug in die Schweiz gelangte. Die Unterbringung in derselben Unterkunft habe ihn völlig überfordert und verängstigt. Rieker sagt:

«Individuelle Abklärungen und Massnahmen sind angebracht, werden aber leider viel zu selten getätigt.»
Peter Rieker

Als problematisch beschreibt der Erziehungswissenschaftler zudem die abrupt veränderte Situation, die der 18.Geburtstag eines jugendlichen Flüchtlings mit sich bringt: «Der offizielle Anspruch auf eine Begleitung ins Erwachsenenleben fehlt fortan. Von einem Tag auf den anderen müssen sie sich um alles selber kümmern. Das würden auch viele junge Menschen nicht schaffen, die in der Schweiz aufgewachsen sind», sagt Rieker.

Zwar würden sich Fachkräfte, Beistände oder Pflegefamilien immer wieder stark für einzelne Geflüchtete einsetzen. «Ob der Übergang ins Erwachsenenleben klappt, darf aber nicht vom Engagement Einzelner abhängen. Hier sind gesetzlich verankerte Unterstützungs­angebote erforderlich», sagt Rieker.

Shabarut* 19 Jahre alt, aus Afghanistan

«Das Wichtigste ist, dass man sofort mit der Schule beginnen kann.»
Shabarut aus Afghanistan

Im Alter von 14 Jahren bin ich mit Freunden aus Afghanistan geflohen, die ich seit meiner Kindheit kenne. Ich war der Jüngste in der Gruppe. Weitere Familienmitglieder konnten nicht mitkommen, da wir nicht genügend Geld für die Flucht für alle hatten. Iran, Türkei, Griechenland, Serbien, Österreich: Für den langen Weg habe ich mich entschieden, nachdem ich eine grausame Bluttat durch die Taliban miterleben musste.

Fortan lebte ich in grosser Angst und fühlte mich bedroht. In Afghanistan musste ich früh selbstständig werden. Mein Vater starb, als ich sechs Jahre alt war. Bereits im Alter von zehn Jahren begann ich daher zu arbeiten. Vormittags besuchte ich die Schule, nachmittags verdiente ich etwas dazu, indem ich den Bauern auf dem Feld half. Obwohl ich in meiner Heimat früh Verantwortung übernommen hatte, war der Start in der Schweiz für mich sehr schwierig.

Ich konnte mich nicht ausdrücken, verstand die Sprache nicht und war abhängig von Dolmetschern. Nachdem ich hier angekommen war, dauerte es fünf Monate, bis ich zur Schule gehen und Deutsch lernen durfte. In dieser Zeit ging es mir sehr schlecht. Ich war einsam, hatte nichts zu tun und sehnte mich nach meiner Familie. Die Tage waren lang und langweilig – sie bestanden einzig aus Schlafen und Essen.

Dabei hatte ich noch Glück und wohnte in einer Unterkunft für jugendliche Flüchtlinge. Ich kenne Gleichaltrige, die in Asylheimen für Erwachsene untergebracht wurden. Dort waren sie oft auf sich gestellt. Neben einer altersgerechten Unterkunft ist es für jugendliche Flüchtlinge das Wichtigste, dass sie so schnell wie möglich mit der Schule beginnen können. Nicht, dass sie, wie ich, wertvolle Zeit verlieren. Es dauert sowieso, bis man sich auf Deutsch unterhalten kann. Bis dahin ist man oft allein.

Nach etwa einem Jahr hatte ich gute Freunde und eine Schweizer Patenfamilie gefunden, seither ist vieles einfacher. Mit meiner Familie telefoniere ich ein- bis zweimal pro Monat. Geht es ihnen nicht gut, schlafe ich schlecht. Als ich vor fünf Jahren in der Schweiz ankam, hoffte meine Mutter, dass ich ihr rasch Geld schicken könnte. Ich war aber erst 14 Jahre alt und musste ihr erst erklären, wie das Schul- und Ausbildungssystem in der Schweiz funktioniert.

Meine Mutter verstand rasch, sie ist intelligent. Sie übt keinen Druck auf mich aus. Zwar ist sie traurig, dass ich weit weg bin, aber auch froh, dass ich hier in Sicherheit bin. Diesen Sommer habe ich mit meiner Elektrikerlehre begonnen. Die Arbeit auf den Baustellen macht mir grossen Spass. Durch die Ausbildung habe ich eine Zukunft in der Schweiz.

Was ich mir noch wünsche? Viele Schweizerinnen und Schweizer denken, dass der Weg hierher einfach gewesen sei. Aber das stimmt nicht. Drei meiner Jugendfreunde sind kürzlich im Meer ertrunken. Ich selbst habe auf der Flucht Dinge erlebt, über die ich nicht sprechen mag. Nur so viel: Ich will auf keinen Fall, dass meine Geschwister dieselbe Route auf sich nehmen.

Bruno*, 20 Jahre alt, aus Afghanistan

«Ich weiss bis heute nicht, ob ich in der Schweiz bleiben darf.»
Bruno aus Afghanistan

Ich lebe seit fünf Jahren in der Schweiz, spreche fliessend Hoch- sowie Schweizerdeutsch, schloss eine Anlehre ab und habe einen Job. Dennoch weiss ich nicht, ob ich in der Schweiz bleiben darf. Ich gelte nach wie vor als vorläufig aufgenommener Flüchtling. Dieser Status verhindert längerfristiges Planen und lässt mich in einer unsicheren Situation zurück. Dabei fühle ich mich im Alltag, bei der Arbeit und mit meinen Freunden längst schweizerisch. Das verdanke ich der Zeit in einem Jugendheim. Ich lebte dort mit Schweizer Jugendlichen und Kindern und bekam ein vertieftes Verständnis für mein neues Heimatland.

Wäre ich mit anderen Asylsuchenden untergebracht gewesen, hätte ich die hiesige Sprache und Kultur nie derart stark verinnerlicht. Das Schweizer Jugendheim war eine gute Basis für meine weitere Entwicklung. Gleichzeitig wusste ich stets, dass es ein vorübergehender Aufenthalt ist. Mir war klar: Ich muss mich darauf vorbereiten, selbstständig zu leben. Deshalb habe ich alle Angebote des Heims genutzt, die es gab.

Ich liess mir von Betreuungspersonen zeigen, wie die administrativen Abläufe und die hiesigen Behörden funktionieren. Zugleich konnte ich viel nachholen, was ich als Teenager verpasst hatte– skaten, Konzerte besuchen, Freundschaften knüpfen. Nach einer enorm schwierigen Zeit kam ich zur Ruhe. Zuvor war ich als einziger Jugendlicher in einem Asylheim mit Erwachsenen untergebracht. Ich lebte in einem Zimmer mit sechs Personen, die zum Teil seit fünf, sechs Jahren dort wohnten – ohne Aktivität oder Beschäftigung.

Es gab keine Tagesstruktur, dafür Drogen und Securitas, die uns wie Kriminelle behandelten. Das war schlimm: Ich hatte auf der Flucht mein Leben riskiert, um mir in der Schweiz eine Zukunft aufzubauen. Aber doch nicht so eine! Deshalb begann ich zu kämpfen, dass sich etwas änderte. Im Asylheim gab es keine Ansprechperson, die mir half. Ich wusste aber von einem Beratungsdienst für Asylsuchende in einer nahe gelegenen Stadt. Dort fand ich Unterstützung: Nach Monaten des Stillstands wurde ich zur Schule angemeldet.

Meine Lehrerin merkte dann, dass es mir im Asylheim nicht gut ging. Ich war übernächtigt und konnte mich kaum konzentrieren. Es war immer laut in der Unterkunft, nachts wurde viel Alkohol konsumiert und im Mehrbettzimmer hatte ich keine Privatsphäre. Meine Lehrerin und mein Lehrer setzten sich sehr dafür ein, dass ich an einem anderen Ort untergebracht wurde. Das dauerte aber wiederum Monate.

Ich war damals so verzweifelt, dass ich mir überlegte, unterzutauchen oder in ein anderes Land zu ziehen. Nun, fünf Jahre später, weiss ich, dass mich das alles stärker gemacht hat. Aber nicht alle Jugendlichen haben das Glück, nach solch einer Erfahrung in einem Jugendheim aufgefangen zu werden. Was wird aus ihnen?

Robil*, 20 Jahre alt, aus Eritrea

«Einen Paten zu haben, hat mir sehr geholfen.»
Robil aus Eritrea

Mein 18. Geburtstag hat vieles verändert. Damals lebte ich seit drei Jahren in der Schweiz. Plötzlich musste ich mit allen Briefen und Rechnungen selbst klarkommen. Und auch kochen, einkaufen, putzen. Zuvor lebte ich in einem Heim für Jugendliche. Als ich volljährig wurde, musste ich dort ausziehen. Die Betreuer hatten für mich und einen Gleichaltrigen zwar eine Wohnung organisiert, doch das Zusammenleben funktionierte nicht.

Mein Mitbewohner machte bei uns zu Hause auch unter der Woche Party und trank viel Alkohol. Ich hatte eben erst meine Anlehre begonnen und brauchte den Schlaf. Als Lehrling und Flüchtling eine eigene Wohnung zu finden, wäre praktisch unmöglich gewesen. Doch mein Pate half mir. Ich hatte ihn schon früher durch den Basler Verein Puma kennen gelernt, der Patenschaften für junge Asylsuchende vermittelt.

Als ich in der Schweiz ankam, war ich 15 Jahre alt und kannte hier keinen Menschen. Da ich Deutsch weder sprach noch verstand, gab es niemanden, mit dem ich meine Probleme besprechen konnte. Ich telefonierte oft mit meiner Mutter in Eritrea, aber sie kennt die Kultur und Verhältnisse der Schweiz ja auch nicht.

Nach etwa einem halben Jahr fand ich durch die Schule Freunde, sie waren aber alle im gleichen Alter wie ich. Mir hat es deshalb sehr geholfen, mit meinem Paten eine erwachsene Person ausserhalb des Heims kennen zu lernen. Denn in den Jugendjahren beginnt das Leben, in dieser Zeit baut man sich etwas auf – oder eben nicht. Mein Pate hat mich motiviert, half mir beim Briefeschreiben oder übte mit mir die Präsentationen für die Schule.

Ich fände es gut, wenn alle jugendlichen Flüchtlinge, die ohne Eltern in die Schweiz kommen, einen Paten oder eine Patin hätten. Nicht nur für die schwierigen Momente, sondern auch, um gemeinsam etwas zu unternehmen und das Land besser kennen zu lernen. Mein Pate nahm mich beispielsweise mit zum Wandern oder Schwimmen und lud mich in ein Restaurant ein. Das fand ich sehr schön.

Eritrea verliess ich, weil ich in meinem Heimatland keine Zukunft hatte. Alle Männer müssen ins Militär. Und was machen sie dort? Nichts. Mein Vater muss seit mehr als 30 Jahren dienen. Als er mal nach ein paar freien Tagen nicht in den Dienst zurückkehrte, wurden meine Mutter und ich tagelang festgehalten. Mir wurde klar: Ich muss weg aus diesem Land.

Seit ich in der Schweiz lebe, habe ich viel mehr Informationen über die Diktatur in Eritrea und weiss nun, weshalb Menschen dort verschwinden. Wie meine Zukunft hier aussieht, hängt einzig von mir ab. Ich will unbedingt die Ausbildung abschliessen, um so rasch wie möglich weg von der Sozialhilfe zu kommen.

Leider spielt meine Hautfarbe im Alltag eine grosse Rolle. Ich habe oft Angst, dass ich mal in eine schwierige Situation gelange und man mir danach meine Unschuld nicht glaubt. Deshalb reagiere ich nicht auf Provokationen, obwohl ich sie mehrfach erlebe. Etwa, wenn ein junger Mann mich im Bus beschimpft, dass ich nicht arbeiten würde. Man weiss nie, was in solchen Situationen alles möglich ist. Deshalb bin ich immer vorsichtig.

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14 Kommentare
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Weiterdenker
08.11.2020 15:32registriert November 2015
So gern ich auch Erfolgsgeschichten lese, frage ich mich trotzdem, wo das hinführen soll. Diese Menschen flüchteten von der Misere ihres Ursprungslandes, um hier Geld zu scheffeln und in ihre Heimat zurückzuführen, um die Familie zu unterstützen. Alles plausibel, aber wie soll das auf die Dauer funktionieren? Die Bevölkerung der dritten Welt wächst kontinuierlich, und irgendwann sind auch die hiesigen Kapazitäten aufgebraucht, egal wie viele Flüchtlinge wir aufnehmen (wollen). Und die Probleme in den Herkunftsländern lassen sich ohne Intervention von Aussen oft nicht beheben.
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