Rund um die Akademisierung ist eine hitzige Debatte entbrannt. Es sei unsinnig, dass man etwa als Kindergartenlehrperson einen akademischen Titel brauche. Der populistisch angehauchte Tenor: Es gebe immer mehr junge, privilegierte Menschen, die auf Kosten der Allgemeinheit an der Universität studieren würden, um danach in einem Mini-Pensum zu arbeiten und sich ein schönes Leben zu machen. Dagegen erodiere das Ansehen der Berufslehre.
Bei diesen oft gehörten Argumenten könnte man glauben, das hochgelobte Schweizer Bildungssystem befände sich in der Krise. In einer Akademisierungskrise, die den Fachkräftemangel befeuert, weil nicht die Leute ausgebildet werden, die auf dem Arbeitsmarkt gefragt sind.
Doch was ist an all dem wirklich dran? Nimmt die Akademisierung wirklich zu oder ist das politische Schaumschlägerei?
Anruf bei Rudolf Strahm. Der Bildungsexperte, Altnationalrat (SP/BE) und ehemalige Preisüberwacher sagt: «Der Fachkräftemangel ist heute kein Akademikermangel.» Vielmehr fehle es an technisch ausgebildeten Leuten. «Zahlenmässig am meisten gesucht sind Personen mit einer Lehre und einer höheren Berufsbildung.»
Tatsächlich: Wie im «Bildungsbericht Schweiz 2023» der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung steht, haben Absolventinnen und Absolventen der höheren Berufsbildung sowie der pädagogischen Hochschulen (PH) sagenhafte Aussichten auf dem Arbeitsmarkt. Rund 97 Prozent der PH-Absolventen haben ein Jahr nach dem Abschluss eine Stelle, bei der höheren Berufsbildung sind es rund 96 Prozent. Bei den Uni- und Fachhochschulabgängerinnen liegt der Wert bei leicht tieferen 92 bis 93 Prozent.
Doch die Hochschulen sind bei jungen Menschen höher im Kurs als die höhere Berufsbildung. Der Anteil der 25- bis 34-Jährigen, die eine höhere Berufsbildung absolvieren, stagniert. Dagegen hat sich der Anteil mit einem Hochschulabschluss seit 2000 verdreifacht und liegt nun bei rund 40 Prozent. Treiber für diese Entwicklung seien jedoch nicht primär die Universitäten, sondern die Fach- und die pädagogischen Hochschulen, heisst es im Bildungsbericht.
Für Rudolf Strahm ist klar: Die höhere Berufsbildung, die zum Beispiel diplomierte Elektrotechniker, Informatikerinnen oder Pflegefachleute hervorbringt, muss gefördert werden. Ein wichtiges Instrument dabei sei die Einführung eines Titels der höheren Berufsbildung, des «Professional Bachelor» und des «Professional Master». Diese Titel gibt es bereits in Deutschland und in Österreich, nicht aber in der Schweiz.
Das Thema beschäftigt die Schweizer Politik seit Jahren. Jüngst scheiterte ein Vorstoss im Ständerat. Doch der «Professional Bachelor» ist nicht vom Tisch. Mehrere Nationalratsmitglieder jeder politischen Couleur greifen das Thema wieder auf - und erhalten viel Unterstützung aus der Berufsbildungslandschaft: vom Arbeitgeberverband, Gewerbeverband und Berufsverbänden.
Womöglich schwenkt nun auch das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) ein. So berichtet zumindest der «Tages-Anzeiger», das SBFI schlage die Einführung des «Professional Bachelor» für Absolventinnen und Absolventen einer eidgenössischen Berufsprüfung sowie eines Diploms der Höheren Fachschule vor.
Bisher hat sich Swissuniversities, der Dachverband der Schweizer Hochschulen, gegen das Anliegen gewehrt. Eine Positionierung zum neusten Vorschlag steht noch aus. Doch an der grundsätzlichen Haltung habe sich nichts geändert, erklärt der Verband gegenüber CH Media. Man sei nach wie vor überzeugt, das aktuelle Bildungssystem sei «gut austariert». Die Berufsbildung und die akademische Bildung seien parallele Wege, die sich inhaltlich unterscheiden. Eine Durchlässigkeit sei immer gewährleistet.
Nicht zuletzt drohe mit dem «Professional Bachelor» jedoch eine Abwertung der Berufsmaturität, die bisher den Königsweg dargestellt habe, um an einer Fachhochschule ein praxisorientiertes Studium aufzunehmen und einen Bachelorabschluss zu erlangen. Für Swissuniversities ist klar: «Der Bachelor- und Master-Titel sind klar im Hochschulumfeld verankert.»
Darauf entgegnet Rudolf Strahm: «Das ist ein Elitenproblem.» Die Universitäten, die vor einer Verwässerung warnten, wollten die Titel für sich behalten und «aus standespolitischen Gründen» verhindern, dass sie mit der Spezialisierung «Professional» auch für die Berufsbildung angewendet würden. Dabei brauche es die Titeläquivalenz, um konkurrenzfähig zu sein. «International und in grossen Konzernen sind Schweizer Berufsleute ohne akademischen Titel benachteiligt.»
In der Schweiz gibt es rund 450 Abschlüsse der höheren Berufsbildung. Jeder habe eine eigene Berufsbezeichnung - ohne übergeordneten Titel. Strahm spricht von einem «Wirrwarr der Titelbezeichnungen».
Das wirke sich auf die Berufswahl aus, sagt Strahm, der 25 Jahre lang an den Universitäten Bern und Freiburg in der Ausbildung von Berufsberatern und Laufbahnberaterinnen tätig war: «Die Jugendlichen wie auch ihre Eltern wollen eine Antwort auf die Frage: Was bin ich nach der Ausbildung? Was kann ich auf meine Visitenkarte schreiben?» Hier verschaffe der Titel Orientierung. (aargauerzeitung.ch)
Mich erinnert das Ganze an Instagram-Filter und aufgespritzte Lippen: Ein Wettlauf um Selbstdarstellung?
Ein gut ausgebildeter und kompetenter Mitarbeiter wird nicht besser, wenn seine Visitenkarte angepasst wird. Ein schlechter auch nicht. Seriöse Unternehmen stellen ihre Mitarbeiter nicht nach Titel ein.