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FA Raetia: Die Bündner Nationalmannschaft, die schon zwei WMs spielte

Die Bündner Nationalmannschaft, die schon gegen die Papst-Elf spielte

Die FA Raetia startete als Gimmas Bieridee, mit dem Wunsch, gegen den Vatikan zu spielen. Mittlerweile hat das Rätische Nationalteam schon zwei Weltmeisterschaften gespielt. Eine in Kurdistan und eine in Abchasien.
31.08.2024, 22:38
Reto Schlatter / ch media
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Wir befinden uns im Jahre 2024. Die ganze Schweiz schaut einen Sommer lang nach Deutschland, wo uns die Schweizer Nati verzaubert... Die ganze Schweiz? Nein! Ein von unbeugsamen Rätiern bevölkerter Kanton hört nicht auf, den Schweizern Widerstand zu leisten. Nun ja. Ganz so rebellisch wie die Gallier sind die Rätier nicht. Aber seit 2011 haben sie ihre eigene Nationalmannschaft, die FA Raetia.

«Es war eine Bieridee von Gimma»

Am Ursprung war die FA Raetia eine «Bieridee», verrät Yacine Azzouz, Gründungsmitglied und späterer Präsident. Der gebürtige Bündner lebte einige Jahre in Deutschland und spielte dort für die 5. Mannschaft des FC St. Pauli. Als er zurück in die Schweiz kommt, gibt es ein Ablösespiel zwischen seiner alten Mannschaft und dem FC Haldenstein.

Der FC Haldenstein war der Vorgänger der FA Raetia und hatte zuvor schon einige Testspiele ausgetragen – und dann eben eines gegen die 5. Mannschaft des FC St. Pauli. Ein guter Freund von Azzouz war und ist Gian-Marco Schmid, besser bekannt als Rapper «Gimma». Nach dem Spiel meinte dieser: «Wenn Yacine es schafft, dass Haldenstein gegen St. Pauli spielt, dann schaffe ich es, dass wir gegen den Vatikan spielen.»

Acht Jahre nach der Gründung konnte das einst genannte Ziel – ein Spiel gegen den Vatikan – erreicht werden.
Acht Jahre nach der Gründung konnte das einst genannte Ziel – ein Spiel gegen den Vatikan – erreicht werden.bild: Fa raetia

Die Idee war geboren. Aber nicht jedes Team kann gegen den Vatikan spielen. Dieser bestreitet nur Spiele gegen offizielle Nationalmannschaften. Somit machte sich eine kleine Gruppe um Gimma und Azzouz auf die Suche, wie es doch möglich ist. «Schnell kamen wir zum Schluss, dass wir Rätien wiederbeleben», erzählt Yacine Azzouz. Die Logik dahinter war, dass Alt-Fry-Rätien nie freiwillig der Eidgenossenschaft beitrat, sondern Napoleon den Freistaat 1803 als Graubünden der Helvetischen Republik überliess.

«Leider sind wir schlecht im Fussball»

Als Fussballauswahl Raetia meldeten sich Azzouz und Co. 2011 beim NF-Board, einem Verband für Nationalteams und Volksauswahlen, die nicht Mitglied der Fifa sind. Der Verband war gerade in den Vorbereitungen für die Viva-Weltmeisterschaft in Kurdistan und lud die Rätier gleich ein, daran teilzunehmen.

«Gross behaupteten wir, dass wir sehr gern an dieser Weltmeisterschaft teilnehmen», erzählt Azzouz, der später für die Reiseplanung nach Kurdistan zuständig war. Die Auflage für eine WM-Teilnahme war einzig, dass die FA Raetia vor dem Turnier schon zwei Spiele ausgetragen hatte. Kurz darauf spielten sie ihr erstes Länderspiel gegen die Chagos-Inseln und später ein zweites gegen Gozo. Der Beweis war geliefert: Die FA Raetia ist eine Nationalmannschaft – oder kann zumindest 11 Spieler aufbieten.

Im Juni 2012 reiste die rätische Auswahl dann in den Irak. Genauer gesagt in die Stadt Erbil, die Hauptstadt der autonomen Region Kurdistan. Abgeholt wurden die Spieler am Flughafen mit Bussen und einer Polizeieskorte. Dies war laut Azzouz die Geste eines guten Gastgebers und nicht nur als Schutzmassnahme gedacht.

In der Gruppenphase spielte die FA Raetia gegen Sansibar und Tamil Eelam. Im Auftaktspiel setzte es für die Rätier eine Niederlage ab, aber das zweite WM-Spiel gegen Tamil Eelam gewann die rätische Auswahl mit 1:0. «Die Matches gehen 90 Minuten und am Schluss gewinnt die FA Raetia», sagte der einzige Torschütze Marco Dudler nach dem Sieg - es war der erste Sieg für Raetia im vierten Spiel seit der Gründung.

Nach der Gruppenphase hatten die Teams zwei spielfreie Tage. Zeit für eine Erkundungstour. Erbil ist eine der ältesten, durchgehend bewohnten Städte der Welt. Für die Rätier ging es darum, an diesem Tag auch die anderen Seiten des Landes zu sehen. Oder wie Gimma es nach dem Ausflug sagte: «Wir sind so kulturell – leider sind wir schlecht im Fussball.»

Die Nocken im Kühlschrank

Dann ging es für die FA Raetia weiter mit Fussball. Nach einer Niederlage im Viertelfinal gegen die Westsahara traf die rätische Auswahl im Spiel um Platz 7 erneut auf Tamil Eelam.

Die Bedingungen für dieses Spiel waren für die Bündner eine neue Erfahrung. Bei praller Mittagssonne und 40 Grad im Schatten mussten die Spieler auf dem Platz leiden - was zu interessanten Lösungsansätzen führte. In der Halbzeitpause kühlte Mittelfeldspieler Thomas Hausmann seine Nocken im Kühlschrank.

Die FA Raetia verlor das Platzierungsspiel und beendete die WM auf Platz 8. Doch im Vordergrund stand nicht das Resultat. «Das sind Fussballer, die sonst 3. oder 4. Liga spielen», erzählt Azzouz. Plötzlich wollen Kinder Autogramme von den Kickern und deren Namen und Fotos stehen in den lokalen Zeitungen. Das sei schon etwas Spezielles.

Tamil Eelam und die Tamil Tigers

Bei der WM geht es um mehr als nur Fussball, wie auch die Aussage des Organisators aus Kurdistan zeigt: «Wir wollen etwas für die Nation machen.» Nach all den Kriegen hätten die Menschen Angst, das Land zu besuchen. «Wir wollen den Leuten zeigen, dass Kurdistan sicher ist», sagte Christian Michels, damaliger Präsident des NF-Boards.

Tamil Eelam ist fast schon Derbygegner der FA Raetia. Hier treffen die beiden bei einem Spiel auf der Isle of Man aufeinander.
Tamil Eelam ist fast schon Derbygegner der FA Raetia. Hier treffen die beiden bei einem Spiel auf der Isle of Man aufeinander.bild: fa raetia

Auch viele Teilnehmer haben politische Hintergründe. Tamil Eelam repräsentiert den von den Separatisten Tamil Tigers geforderten tamilischen Staat im Norden Sri Lankas. Für die Spieler von Teams wie Tamil Eelam oder Sansibar ist es eine Riesenehre, ihre Volksgruppen an einer Weltmeisterschaft zu repräsentieren.

Als Yacine Azzouz in Sansibar in den Ferien war, traf er ein Mitglied des Fussballverbands der Inselgruppe. Dieser konnte sich noch gut an die Rätier erinnern. «Für sie war die WM ein Riesending. Die Spieler haben alle einen Peugeot gekriegt», erzählt der Mitgründer der FA Raetia.

Auch der FA Raetia ist die eigene Herkunft wichtig. Sie sehen sich aber ganz klar nicht als Separatisten, betont Azzouz. Das sieht man auch an Gimmas Hits «Superschwiizer» oder «Hymna», dem Schweizer-Nati-Song für die WM 2006.

Gimmas Nati-Hit: «Hymna»

Aber die Geschichte der Rätier ist den Gründern wichtig. Die Flagge von Raetia ist eine frühere Schlachtflagge des letzten rätischen Bundes: Alt-Fry-Rätien. Die Farben Blau, Weiss und Grau repräsentieren die Flaggen der Drei Bünde: Gotteshausbund, Grauer Bund und Zehngerichtebund. Die Nationalhymne «A Tgalaveina» ist ein Volkslied aus der Surselva. Sie besingt den Freiheitskampf der Bündner gegen die Habsburger.

«Hymna» war der Schweizer-Nati-Song für die WM 2006.Video: YouTube/ehcfans

«Wir sind uns der Geschichte schon bewusst. Das ist nicht nur Jux und Tollerei», erklärt Azzouz. Auch die Spieler der Auswahl sind allesamt Bündner. Obwohl der internationale Fussballverband keine Kontrollen durchführt, sagt er weiter: «Da sind wir uns schon recht treu geblieben.»

Die Weltmeister der Herzen

Im Jahr 2016 ging es für die Rätier an die nächste Weltmeisterschaft, mittlerweile vom neuen Verband Conifa organisiert. Dieses Mal fand die WM in Abchasien statt, einer autonomen Republik im Norden Georgiens.

«Wir machen das Ganze auch wegen der Abenteuer drum herum», sagt Yacine Azzouz, «weil wir an Orte reisen, die man sonst nie besucht.» Abchasien ist von der Welt grösstenteils abgeschnitten und nur über den Grenzübergang zu Russland erreichbar. Der Reiseplaner der rätischen Auswahl erzählt: «Dort bist du praktisch mit einer Zeitmaschine in die 80er-Jahre zurückgeschickt worden.»

In den ersten drei Spielen an der WM setzte es für die Rätier jeweils eine Niederlage ab. Im Platzierungsspiel gewann die FA Raetia im Penaltyschiessen gegen die Chagos-Inseln und beendete das Turnier auf dem 11. Rang.

Sportlich haben die Rätier an der WM in Abchasien verloren, dafür haben sie das Herz eines Sechsjährigen erobert. Vanja, der russische Superfan, bemalte sogar selbst ein Leibchen mit dem Logo. Seine Familie wollte eigentlich nur Ferien am Schwarzen Meer machen. Nachdem Vanja die FA Raetia gesehen hatte, musste seine Mutter ihn dann aber an alle Spiele der Rätier begleiten. «Am Schluss haben wir ihm dann natürlich noch ein richtiges Trikot von uns geschenkt», erzählt Azzouz.

Das Spiel gegen die «Papst-Elf»

2019 war es dann endlich so weit. Die FA Raetia traf auf den Vatikan. Vor dem Spiel durften die Rätier noch hinter die Kulissen des Stadtstaats schauen. Und dies nicht auf einer klassischen Touristentour. Das Team durfte sogar die Waffenkammer der Schweizergarde voller Knüppel und Hellebarden besuchen.

Und die Gardisten standen nicht nur Spalier als Bewacher des Heiligen Stuhls. In der Freizeit spielen viele auch in der Kardinalsliga - und eben auch für die päpstliche Nationalelf. Gespielt wurde auf italienischem Boden, auf dem Trainingsgelände der AS Roma. Im Hintergrund strahlte die Kuppel des Petersdoms. Beim Wimpeltausch vor dem Spiel wurden noch Geschenke ausgehändigt. Die Rätier schenkten dem Vatikan natürlich eine Bündner Nusstorte.

Das Spiel, bei dem auf beiden Seiten Schweizer im Einsatz standen, endete mit einem neutralen 2:2. Das Resultat stand aber nicht im Vordergrund. «Das war für uns schon sehr speziell», sagt Yacine Azzouz über das Spiel gegen die «Papst-Elf», bei dem das ursprüngliche Ziel der FA Raetia erreicht wurde.

Seit dem Erreichen dieses Ziels hat die rätische Auswahl weitere acht Spiele bestritten. Die nächsten zwei sind schon eingeplant - in Casablanca und in Gibraltar. Für Yacine Azzouz wäre der Traum, ein Spiel gegen Grönland in Grönland zu spielen.

Ob dieser Traum einst in Erfüllung geht, steht noch in den Sternen. Klar ist einzig, dass nach diesem Spiel wieder richtig gefestet würde, wie nach jedem Spiel der FA Raetia. Ganz nach dem Vorbild der Gallier. (aargauerzeitung.ch/lyn)

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