Sommerzeit ist Wolfzeit. Kein anderes Tier in der Schweiz polarisiert so stark wie das Raubtier, was insbesondere in der Zeit der Sömmerung spürbar wird. Ziemlich genau ein Jahr ist es her, als das Beverinwolfsrudel auf der Alp Nurdagn eine Mutterkuh tötete und wenige Tage später gleich nochmals zuschlug. In der Folge rissen die Schlagzeilen um den Wolf kaum ab.
Dieses Jahr ist es bislang ruhiger. Die Zahl der Risse sei im Vergleich zum Vorjahr deutlich zurückgegangen, meldete vor kurzem die Gruppe Wolf Schweiz: «Im Wallis gibt es bisher 55 Prozent weniger Risse als im Vorjahr, in Graubünden sogar 80 Prozent weniger», schrieben die Tierschützer Ende Juni. Seither machten zwar vereinzelt Meldungen von Attacken die Runde. Von der Emotionalität der letztjährigen Debatte scheint die Schweiz derzeit aber weit entfernt. Der Ärger entzündet sich dafür an anderer Stelle, und für einmal stehen Bauern und Umweltschützerinnen Seite an Seite.
Am 5. Juli schickten vier Umweltschutzorganisationen einen Brief an die Adresse von Umweltminister Albert Rösti, um ihre Ungeduld kundzutun. Am 16. Dezember habe das Parlament die Revision des Jagdgesetzes beschlossen, «bisher ist die Vernehmlassung zur entsprechenden Anpassung der Verordnung noch nicht gestartet», beginnt das Schreiben. Dabei müsse das Ziel sein, dass die revidierte Wolf-Verordnung noch vor der nächsten Alpsaison in Kraft treten könne. Den Brief gezeichnet haben WWF, Pro Natura, Bird Life Schweiz und die Gruppe Wolf Schweiz.
Die Revision des Jagdgesetzes ist eine leidige Angelegenheit. Eigentlich wollte der Bund den Umgang mit Wildtieren schon lange auf den neusten Stand bringen. Aber dann versenkte das Schweizer Stimmvolk im September 2020 eine entsprechende Vorlage an der Urne. Seither herrscht Ungewissheit im Verhältnis mit dem Wolf. Zwar einigte sich das Parlament im Dezember auf ein neues Gesetz, aber die genauen Verordnungen lassen auf sich warten.
Für diesen Sommer hat Bundesrat Rösti im Juni eine Übergangslösung angeordnet, welche die Situation für die betroffenen Gebiete kurzfristig entschärfen soll. Unter anderem hat der Bundesrat für Einzelwölfe, die in Gebieten unterwegs sind, in denen bereits früher Schäden zu verzeichnen waren, die für den Abschuss massgebende Schadenschwelle von 10 auf 6 Nutztierrisse gesenkt.
Der Widerstand gegen diese Bestimmungen hielt sich in Grenzen. Auch, weil sie als Notlösung angekündigt wurden, bis eben das revidierte Jagdgesetz in Kraft tritt. Die endgültige Diskussion, so die allgemeine Annahme, würde dann im Rahmen einer Vernehmlassung zu den neuen Verordnungen geführt. Recherchen dieser Zeitung zeigen nun: Gut möglich, dass es gar nie so weit kommt. Zwei Quellen sagen unabhängig voneinander, dass Rösti kommenden Winter die Wolf-Verordnung einführen will, ohne die Meinung der Interessenvertretungen einzuholen. Eine Anfrage dieser Zeitung liess das zuständige Bundesamt gestern unbeantwortet.
Für Sara Wehrli von Pro Natura ist dieses Vorgehen stossend. Es sei zwingend, dass bei dieser Diskussion die unterschiedlichen Interessensgruppen angehört werden müssten, «das entspricht einfach den demokratischen Gepflogenheiten». Würde der Bund in Eigenregie eine Verordnung schreiben, steige das Risiko von Details, die dann in Beschwerden geklärt werden müssen. «Die Rechtsunsicherheit dient niemandem», ist Wehrli überzeugt.
Zuspruch erhält sie von ungewohnter Seite. Georges Schnydrig ist Co-Präsident des Vereins Lebensraum Schweiz ohne Grossraubtiere - und vertritt normalerweise die exakte Gegenposition zu Wehrli in Sachen Wolf. Auch er sieht das Vorgehen des Bundesamts für Umwelt aber ziemlich kritisch: «Es ist heikel, auf die Stellungnahmen der Betroffenen zu verzichten. Entsprechend würden wir uns eine Beschwerde vorbehalten», kündigt er an.
Wenn auch aus anderen Gründen. Für Schnydrig steht fest: Es braucht jetzt eine deutlich härtere Gangart beim Wolf. In der neuen Verordnung müssten die Nulltoleranz für Grossraubtiere im Siedlungsgebiet, der Verteidigungsabschuss bei unmittelbaren Wolfsangriffen und Vorranggebiete für die Weidetierhaltung aufgenommen werden.
Die Situation auf den Alpen derzeit schildert er trotz ausbleibender Berichte über Risse als «dramatisch». Manche Alpen würden gar nicht erst mehr bestossen.
«Die Bauern nutzen alle Möglichkeiten, um dem Wolf entgegenzuwirken. In diesem Jahr lagen zusätzliche vier Millionen für den Herdenschutz bereit, diese sind bereits jetzt verteilt.» Auch davon haben die Umweltverbände Wind bekommen. Es sei entscheidend, dass die Bauern genügend Mittel zum Schutz zur Verfügung hätten, schreiben sie in ihrem Brief. Eine Antwort steht noch aus.
Vom Klima gar nicht zu sprechen...