«Achtung Eislawinen!» Diese Meldung ist keine Zukunftsmusik, sondern brandaktuell. Wegen der Erderwärmung drohen derzeit Teile eines Gletschers am Mont-Blanc einzustürzen. Am Dienstag haben die Behörden deswegen mehrere Strassen gesperrt. Das Beispiel zeigt: Die Gletscherschmelze ist ins vollem Gange.
Was sind die Folgen für die Schweiz? Am Rande der Medienkonferenz des am Mittwoch publizierten Sonderberichts «Ozeane und Gletscher» des Weltklimarats sprach watson in Bern mit ETH-Forscher Andreas Fischlin. Er hat als Vize-Vorsteher direkt am IPCC-Bericht mitgearbeitet.
Traurig aber wahr: In den Alpen verschwinden bis ins Jahr 2100 80 Prozent der Eismassen. Die Schneedecke geht ebenfalls rapide zurück. In der Schweiz werden die allermeisten kleineren Gletscher in den nächsten Jahrzehnten schmelzen. Jüngstes Beispiel ist der Pizolgletscher. Er hat dermassen an Substanz verloren, dass er gar nicht mehr als Gletscher zählt. «In tieferen Lagen schmelzen die Gletscher schon jetzt wie verrückt und sind bald weg», sagt Fischlin.
Als weiteres Beispiel nennt er den Morteraschgletscher im Bündnerland, der schon zwei Kilometer zurückgegangen sei. Zu beachten sei jedoch, dass sich Gletscher häufig über verschiedene Höhelagen erstreckten. «Unten sind alle dem Untergang geweiht. In der Höhe können sie sich länger halten», so Fischlin.
Dennoch ist der Rückgang auch im Hochgebirge massiv: Die ETH hat jüngst in einer Simulation aufgezeigt, was vom Aletschgletscher in 80 Jahren noch übrig bleibt. Es ist nicht mehr viel. Selbst, wenn die Erderwärmung – wie im Pariser Klimaabkommen vorgesehen – «nur» maximal 2 Grad beträgt, verschwindet die Hälfte des Aletschgletschers.
Zu beachten ist, dass das Tempo der Gletscherschmelze auch von lokalen Faktoren abhängig ist. Eispanzer in Schattenlöchern schmelzen weniger schnell als jene an sonnenexponierten Lagen.
Durch die Gletscherschmelze entstehen vielerorts unterhalb der Gletscherzunge kleine Seen, die sich im Worst-Case-Szenario urplötzlich entleeren und mit einer Flutwelle ganze Dörfer überfluten könnten. «Wir werden mit den Gletscherseen noch viel zu kämpfen haben», sagt ETH-Forscher Fischlin.
Einen Vorgeschmack gab es 2009 beim Grindelwaldgletscher. Nach einem durch schwindenden Permafrost ausgelösten Hangrutsch, staute sich das Schmelzwasser zu einem Gletschersee. Der natürliche Damm wurde zusehends instabil und drohte zu brechen. Deswegen musste ein Entlastungsstollen gebohrt werden, damit das Wasser kontrolliert abfliessen konnte.
Ein weiteres Beispiel ist die Stieregghütte: Wegen der Gletscherschmelze löste sich oberhalb des Grindelwaldgletschers 2005 ein ganzer Hang. Die Hütte musste geräumt und später durch die Feuerwehr kontrolliert abgebrennt werden.
Ob Aare, Reuss oder Limmat: Wegen der Gletscherschmelze drohen die Flüsse in den Sommermonaten zu einem Rinnsal zu verkommen. Denn das Gletscherschmelzwasser macht rund 50 Prozent der Abflussmenge aus. «Geht die Klimaerwärmung so weiter wie bis anhin, wird etwa die Aare künftig im Sommer nur noch halb so viel Wasser führen», erklärt Fischlin. Auch die Pegel der Seen würden massiv sinken.
Einen Vorgeschmack darauf gab es im Hitzesommer 2018: Damals trocknete die Emme praktisch aus.
Zwar bringt der Klimawandel im Winter insgesamt mehr Niederschlag in den Schweizer Alpen. Es sind jedoch gigantische Eingriffe in die Natur nötig, um die Wassermassen zu speichern: «Man muss den Regen mit neuen Dämmen auffangen, sonst drohen etwa in Bern massive Überflutungen», so der ETH-Forscher weiter.
Es brauche nichts weniger als eine «Alpen-Gewässer-Korrektion», um die Kontrolle über das Wasser-Management in den Bergen zu behalten. Durch die neuen Dämme könnte man die Auswirkungen der Gletscherschmelze etwas abfedern, im Sommer das im Winter gespeicherte Wasser ablassen und so die Abflussmenge der Flüsse erhöhen.
Umweltschützer dürften daran keine Freude haben: «Neue Dämme gehen auf Kosten des Landschaftsschutzes», stellt Fischlin klar.
In einigen Skigebieten werden wichtige Gletscher-Passagen mit Folien abgedeckt, um das Abschmelzen zu verhindern. Der erste Gletscher in der Schweiz, der Gurschengletscher, wurde schon 2005 so eingewickelt.
Ist dies ein taugliches Mittel, um Gletscher zu retten? «Das ist Unsinn und nichts mehr als Symptombekämpfung», sagt Fischlin. Gletscher seien viel zu gross, um sie komplett mit Folie abzudecken. So oder so könne mit dieser Methode das Abschmelzen nur hinausgezögert, aber nicht verhindert werden.
Durch die Klimaerwärmung wird die Schneefallgrenze in den nächsten Jahrzehnten um mehrere hundert Meter nach oben steigen. «Wenn wir die Klimaerwärmung nicht stoppen, wird etwa Davos kein schneesicheres Skigebiet mehr sein», sagt Fischlin.
Wegen der Erderwärmung mussten bereits jetzt zahlreiche Skigebiete, die unterhalb der hochalpinen Zonen (1500-2500m) liegen, schliessen.
Die Winter in den Alpen sind mittlerweile zehn bis 30 Tage kürzer als noch in den 1960er Jahren. Bis 2100 wird es kaum noch Schnee unter 1200 Metern geben - die aktuell durchschnittliche Höhe für Skigebiete. Die gesamte Schneedecke in den Alpen wird laut aktuellen Studien um 70 Prozent zurückgehen.