Seit 18 Monaten verlässt durchschnittlich jeden Tag ein Einwohner die Stadt Bern und kehrt nicht mehr zurück. Zwischen Januar 2020 und Ende Juni 2021 hat die Bundesstadt 516 Einwohnerinnen und Einwohner verloren. Damit ist sie nicht alleine. In den vergangenen Monaten schrumpften viele der zuvor boomenden Schweizer Städte oder wuchsen deutlich weniger stark als das gesamte Land.
Alle sechs Schweizer Städte mit über 100'000 Einwohnern – ihrer Grösse nach sind das Zürich, Genf, Basel, Lausanne, Bern und Winterthur – sind betroffen, aber nicht alle gleich stark. Winterthur wuchs auch während der Pandemie. Lausanne hat seit Anfang 2020 fast 0.6 Prozent der Wohnbevölkerung verloren. In Bern sind es knapp 0.4 Prozent, in Genf 0.04 Prozent.
Der Berner Stadtpräsident Alec von Graffenried sagt, dass die leichte Abnahme im Jahr 2020 darauf zurückzuführen sei, dass das diplomatische Personal pandemiebedingt um rund 10 Prozent abgenommen habe. «Wäre es konstant geblieben, hätte ein Wachstum resultiert», sagt von Graffenried.
Im aktuellen Jahr wiederum beobachte die Stadt vor allem einen negativen Wanderungssaldo. In einer Publikation des Schweizerischen Städteverbands beschreibt Thomas Holzer, der Bereichsleiter Statistik der Stadt, das Phänomen. An der Abwanderung von Personen ins Ausland lag der Rückgang nicht. Diese war tiefer als in den letzten fünf Jahren. Gleichzeitig zogen auch weniger Menschen aus dem Ausland in die Stadt.
Bei den Zuzügen aus anderen Schweizer Gemeinden hätten sich die Werte auf dem zu erwartendem Niveau bewegt, «während die Wegzüge in vielen Monaten sehr hohe Werte verzeichnen», schreibt Holzer. Im Jahr 2021 halte diese Entwicklung bisher an. Das heisst: Die Städte schrumpfen nicht etwa, weil Ausländerinnen und Ausländer in ihre Heimat zurückkehren oder die Landbevölkerung nicht mehr in die Stadt will, sondern weil Städter wegziehen.
Ein Trend, der auch nach der Coronakrise anhalten könnte. In den letzten Jahren sei die Bevölkerung der Bundesstadt proportional stärker gewachsen als der Wohnungsbestand, sagt Alec von Graffenried. Mehr Personen teilen sich also eine Wohnung, die Leerwohnungsziffer nahm laufend ab.
Nun wäre mit abnehmender Bevölkerungszahl zu erwarten gewesen, dass die Leerwohnungsziffer wieder nach oben zeigt. Schliesslich zogen Menschen weg. Dem war aber nicht so: Per 1. Juni lag die Kennzahl in der Stadt Bern bei 0.54 Prozent und damit noch einmal 0.04 Prozent tiefer als ein Jahr zuvor.
«Das heisst, dass die Wohnungsbelegung entgegen dem Trend der letzten Jahre wieder leicht abgenommen hat», sagt von Graffenried. Das lasse sich durch die Pandemie und die daraus folgenden Massnahmen wie die Homeoffice-Pflicht begründen: «In dieser Zeit streben die Menschen nach mehr Wohnfläche.»
Das könnte so bleiben. «Wir beobachten, dass die meisten Personen, die aus der Stadt Bern wegziehen, in eine umliegende Gemeinde oder in eine Gemeinde der Agglomeration ziehen, um sich das Anliegen nach mehr Wohnfläche zu erfüllen. Wenn sich nach der Pandemie Homeoffice als Arbeitsform etablieren sollte, ist es möglich, dass die gestiegenen Raumbedürfnisse diesen neuen Trend bestätigen.»
Trotzdem ist von Graffenried optimistisch. Die Stadt Bern werde weiterhin attraktiv bleiben, weil sie eine hohe Wohn- und Lebensqualität biete. «Die Wohnbautätigkeit wird in Bern an Schwung zulegen, die Stadt Bern wird damit weiter solid wachsen».
Der Bevölkerungsverlust während der Coronakrise sei zudem nicht spezifisch für Bern. Zuletzt traf das Phänomen auch Städte, die 2020 noch zulegen konnten. So hat die Stadt Zürich in den ersten fünf Monaten dieses Jahres mit einem Minus von 0.03 Prozent ebenfalls Einwohnerinnen und Einwohner verloren. In Basel wurde im ersten Halbjahr ein Minus von 0.4 Prozent registriert.
Von einem längerfristigen Trend will man dort nichts wissen. «Die Stadt Basel, der Kanton Basel-Stadt und die Region wachsen seit Jahren», sagt Michael Wilke, der Leiter der Fachstelle Diversität & Integration des Kantons.
Schwankungen von wenigen Hundert Personen seien vor allem in Veränderungen des Wohnungsangebot begründet. «Ein Rückschluss auf einen möglichen Corona-Effekt scheint uns zu früh», sagt er.
Die Wohnbevölkerung in der Stadt Basel dürfte bis 2045 um gut 10 Prozent wachsen. Das wäre weniger als die Gesamtbevölkerung der Schweiz. Die soll laut dem Referenzszenario des Bundes bis 2045 um 19 Prozent zunehmen. Das liege daran, dass die Stadt Basel durch ihre Fläche von knapp 23 Quadratkilometern begrenzt sei, sagt Wilke. «Bevölkerungswachstum ist nur durch eine weitere Innenverdichtung möglich. Die begrenzten Möglichkeiten führen zu einem Wachstum ausserhalb der Kernstadt.»
Die aktuelle Wachstumsrate werde nicht als problematisch eingeschätzt, sagt Wilke. Sie sei kein Zeichen einer geringeren Attraktivität oder einer nachlassenden wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. «Sie ist einzig abhängig von der begrenzten Verfügbarkeit von Wohnraum innerhalb der Kantonsgrenzen.»
Ähnlich tönt es in Winterthur, der zuletzt am stärksten gewachsenen Stadt. Zwar sei das Wachstum im Jahr 2020 das tiefste seit zehn Jahren gewesen, sagt Fritz Zollinger, der Leiter der Fachstelle Stadtentwicklung a.i. In den nächsten Jahren rechne die Stadt aber mit einem jährlichen Wachstum von über 1 Prozent. Winterthur sei eine attraktive Stadt. Die Verkehrsanbindung insbesondere an die Stadt Zürich sei hervorragend.
Entscheidend dürfte aber etwas anderes sein: «Es wird anhaltend viel Wohnraum in guter Qualität zu bezahlbaren Preisen – tiefer als in Zürich – realisiert und auf dem Markt angeboten», sagt Zollinger. In vielen anderen grossen Städten ist das nicht der Fall: In Zürich stiegen etwa die Preise für Mietwohnungen 2020 um 1.6 Prozent (CH Media berichtete). Die Nachfrage übersteigt das Angebot weiterhin. Das Schrumpfen der Städte könnte ein kurzes Intermezzo gewesen sein. (bzbasel.ch)
Alle diese Bereiche sind seit Beginn der Pandemie massiv eingeschränkt worden. Wenn die Uni im Fernunterricht stattfindet und die Kleider bei Zalando bestellt werden, braucht es das städtische Angebot nicht mehr.