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Sans-Papiers: Warum darf Kelly keine Lehre machen?

Dieser jungen Brasilianerin droht die Ausschaffung: Warum darf sie keine Lehre machen?

Trotz guter Integration droht Kelly Alves die Ausschaffung. Die junge Brasilianerin fühlt sich von den Behörden im Stich gelassen.
06.12.2019, 06:4506.12.2019, 14:48
Kari Kälin / CH Media
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Wir treffen Kelly Alves im Glasi-Restaurant Adler in Hergiswil. An dem Ort, an dem sie im Sommer ein paar Tage schnuppern durfte. An dem Ort, an dem sie Patron Urs Emmenegger überzeugt hat. So dass er ihr einen Lehrvertrag als Restaurationsfachfrau gab. So dass Alves eine Zukunftsperspektive hat. Sie träumt bereits jetzt von einer weiteren Ausbildung im Pflegebereich.

Steht vor einer ungewissen Zukunft: Kelly Alves am Vierwaldstättersee in Hergiswil im Kanton Nidwalden.
Steht vor einer ungewissen Zukunft: Kelly Alves am Vierwaldstättersee in Hergiswil im Kanton Nidwalden.Bild: ch media

Alves, eine freundliche, 17-jährige Frau aus Brasilien, lebt erst seit Frühling 2014 in der Schweiz. Gleichwohl spricht sie schon fast akzentfrei Schweizerdeutsch. Ein Jahr lang besuchte sie im Kanton Solothurn eine Integrationsklasse, danach die Oberstufe. Sie liest und tanzt gerne, unternimmt viel mit Freunden.

Doch unbeschwert kann Alves ihre Hobbys nicht geniessen. Über ihr schwebt das Damoklesschwert der Ausschaffung. Alves ist eine Sans-Papierère. Ihre Mutter verschwieg ihr das. Die Sache flog bei der Lehrstellensuche von Alves’ älterer Schwester auf.

Die Geschichte von Kelly Alves illustriert, welchen Hürden illegal anwesende Ausländer überwinden müssen, selbst wenn sie sich integrieren und ihr Leben selber in die Hand nehmen.

Dank AHV-Nummer in die Berufsschule

Alves befindet sich familiär und rechtlich in einer schwierigen Situation. Im Frühjahr 2018 gerät ihre Mutter ins ­Visier der Justiz. Sie soll in Drogengeschichten und andere illegale Machenschaften verstrickt sein und steht vor der Ausschaffung.

Alves hat den Kontakt zu ihr abgebrochen und weiss nicht, wo sie sich befindet. Zuerst findet die Teenagerin Unterschlupf bei einer Familie im Kanton Solothurn. Im letzten Oktober zieht sie zu einer befreundeten Frau in Emmenbrücke im Kanton Luzern, einer alleinerziehenden Mutter. Eine Bekannte von ihr vermittelt den Kontakt zum Glasi-Restaurant.

Mit der Anstellung schöpft Alves Hoffnung. Schon bald aber schiessen bürokratische Hindernisse wie Pilze aus dem Boden. Das Amt für Berufsbildung des Kantons Nidwalden kann den Lehrvertrag nicht genehmigen, weil Alves die Aufenthaltsbewilligung fehlt.

Das bedeutet: Die junge Frau hat einen Job, darf aber nicht arbeiten. Die Berufsschule in Luzern lehnt sie zuerst ab, weil sie als Sans-Papierère keine AHV-Nummer hat. Alves räumt den Stolperstein aus dem Weg.

Mit Hilfe von Patron Emmenegger und dem Verein Sans-Papiers Luzern organisiert sie das nötige Dokument sowie eine Krankenversicherung – was grünes Licht für den Schulbesuch bedeutet. Die Sans-Papiers-Stelle zeigt Alves einen juristischen Ausweg aus der aufenthaltsrechtlichen Sackgasse auf. Sie formuliert für die Restaurationsfachfrau ein Härtefallgesuch, das derzeit beim Migrationsamt des Kantons Solothurn hängig ist.

Wer eine bestimmte Zeit – in der Praxis geht man von etwa fünf Jahren aus – in der Schweiz gelebt, die Ortsprache gelernt, sich tadellos verhalten hat und auch beruflich integriert ist, hat durchaus Chancen auf eine Aufenthaltsbewilligung. Gemäss einer Weisung des Staatssekretariats für Migration (SEM) können die zuständigen Behörden von einer hohen Integration ausgehen, wenn ein Kind seine Teenagerjahre in der Schweiz verbracht hat. Für Alves trifft das zu.

Auf eigene Faust

Kelly Alves erlebt eine aufwühlende Zeit. Von ihrer Beiständin, eingesetzt von der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) Olten-Gösgen, fühlt sie sich im Stich gelassen. Die AHV-Nummer, die Krankenversicherung, das Härtefallgesuch, ihre Wohnmöglichkeit: All das hat sie auf eigene Faust aufgegleist. Support bei ihrem Kampf für das Bleiberecht leisten Lehrmeister Emmenegger und die Sans-Papiers-Stelle.

Setzt sich die Beiständin nicht genügend für das Wohl des Kindes ein? Jürg Vögtli, Präsident der Kesb Olten-­Gösgen, nimmt sie in Schutz. Wenn jemand ohne geregeltes Aufenthaltsrecht in der Schweiz sei, stosse man immer auf Widerstände. Deshalb sei es der Beiständin trotz ordentlicher Bemühungen nicht gelungen, die Krankenversicherung und deren Finanzierung abschliessend zu regeln.

Das geltende Recht lasse wenig Spielraum zu, um Personen ohne Aufenthaltsrecht den Verbleib in der Schweiz zu erleichtern. Die Kesb und die Beistände müssten alle Massnahmen unterlassen, die den Vollzug einer ausländerrechtlichen Entscheidung verzögerten. «Angesichts solcher Konstellationen entsteht auch rasch einmal und nachvollziehbarweise der Vorwurf, eine Beistandsperson setze sich zu wenig für ein Kind ein», so Vögtli. In der Tat holte die Sans-Papiers-Stelle – zumindest vorerst – die Kohlen aus dem Feuer.

Drei Monate zu wenig in der Schule

Für die Brasilianerin wäre vieles einfacher, wenn sie eine sogenannte Sans-Papiers-Lehre absolvieren könnte. Dafür erfüllte sie die Bedingungen nicht. Unter anderem sass sie nicht die nötigen fünf Jahre in Schweizer Schulzimmern, ihr fehlen drei Monate.

Luzia Vetterli, Rechtsanwältin und Vorstandsmitglied beim Verein Sans-Papiers Luzern, taxiert die Voraussetzungen für eine Sans-Papiers-­Lehre als zu restriktiv. «Man müsste die erforderliche Schulpflicht auf drei Jahre senken», sagt sie. Die Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen teilt ihre Meinung.

Emmenegger führt das Glasi-Restaurant Adler nur noch bis Ende Jahr. Er ärgert sich, dass das Solothurner Migrationsamt noch nicht über Alves Härtefallgesuch befunden hat. Emmenegger möchte den Lehrvertrag unbedingt noch unter seiner Ägide mit den Behörden besiegeln.

Sollte das misslingen, hofft er, dass seine Nachfolgerin Alves trotz aller Widerwärtigkeiten eine Chance gibt. Rechtlich wäre das möglich. «Während des hängigen Verfahrens um Härtefallbewilligung kann die betroffene Person legal arbeiten», teilt eine Sprecherin des Bundes mit.

Doch wann fällt der Entscheid zum Härtefallgesuch? Charles Rieben vom Migrationsamt Solothurn rechnet damit, dass dies Anfang 2020 der Fall sein wird. Dass die Mühlen in den Augen der Betroffenen und deren Umfeld zu langsam mahlen, kann er nachvollziehen. Er sagt aber: «Es handelt sich um einen komplexen Fall.»

Auf Riebens Tisch liegen nämlich weitere Gesuche aus der Familie von Alves. Gegen die Mutter und weitere Familienangehörige hat das Migrationsamt eine Wegweisungsverfügung verhängt, die rechtskräftig ist. Blitzt ­Kelly Alves mit ihrem Härtefallgesuch ab, droht auch ihr dieses Szenario.

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60 Kommentare
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Kiro Striked
06.12.2019 07:32registriert August 2019
«Man müsste die erforderliche Schulpflicht auf drei Jahre senken»

Und wenn es dann nicht reicht, auf 2 und wenn es dann nicht reicht u.s.w.

Ich wünsche Ihr das Beste, wirklich. Aber hier sucht man den Bösen in der Schweizer Gesetzgebung und Bürokratie. Hätte die Mutter keine Drogengeschichten am Hals wäre das Problem nichtmal so in der Welt.

Ich hoffe sehr für sas Mädchen, das hier für Sie entschieden wird. Aber gegen Ihre Mutter, das klingt hart, aber wir können nicht unseren ganzen Rechtsstaat auskoppeln wegen einem einzelnen Fall sonst können wir gleich Anarchie ausrufen.
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Coffeetime ☕
06.12.2019 07:07registriert Dezember 2018
Ich wünsche Alves viel Erfolg, dass die Administrationsmühlen einen positiven Entscheid fällen. Eine so motivierte junge Frau sollte doch unterstützt werden und wenigstens ein wenig Glück haben.
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Bravo
06.12.2019 07:38registriert Juli 2018
Diesen Satz finde ich trotz Dezember, Samichlaus und Weihnachtsbäumen überall geradezu provozierend: 'Das geltende Recht lasse wenig Spielraum zu, um Personen ohne Aufenthaltsrecht den Verbleib in der Schweiz zu erleichtern.'

Ist es nicht die Aufgabe des geltenden Rechts, dass Personen ohne Aufenthaltsbewilligung eben die Schweiz verlassen müssen??

Ich bin überzeugt, jeder dritte Fall, welche eine Person ohne Aufenthaltsbewilligung betrifft, ist ähnlich gelagert wie dieser hier. Im Einzelfall natürlich für die Betroffenen sehr hart.
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