Welche Bedeutung hat der Prime Tower für Sie, der bei der Eröffnung 2011 das höchste Gebäude der Schweiz war?
Annette Gigon: Die Schweizer Höhenrekorde interessieren in erster Linie Medien und Kinder, aber in den USA hat man schon vor hundert Jahren so hoch gebaut. Uns interessierte vor allem die Form, die Materialisierung, sein Verhältnis zur näheren und weiteren Umgebung. Der Prime Tower wurde zu einem Auftakt in doppeltem Sinn. Es war der Auftakt zu einem Revival der Hochhäuser und zur Umnutzung und Transformation des ehemaligen, geschlossenen Industriegebietes Züri-West zu einem Stück Stadt.
Was ist speziell am Prime-Tower?
Speziell am Prime Tower ist, dass er eine neue Sicht eröffnet. Zum einen ist er selbst von überall her sichtbar. Zum anderen ermöglicht er eine neue Perspektive auf die Stadt. Vom öffentlichen obersten Stockwerk können die Besucher Zürich aus einer neuen Perspektive sehen.
Sie sagten, es sei ein Auftakt gewesen. Wie kam es eigentlich, dass die Hochhäuser zwischenzeitlich in Verruf gerieten?
In den 50er und 60er Jahren gab es erste schöne Hochhäuser in Zürich. Darunter viele kommunale Projekte. Ich denke an die Hardau-Häuser, die Steiner-Häuser am Letzigraben, das Schwesterenhochhaus beim Unispital oder die Grünau-Siedlung. In den Nachkriegsjahren strebte die Gesellschaft in die Höhe. Im Lochergut wohnte gar Max Frisch. Dann kippte die Stimmung in den 1970er und 1980er Jahren in der Zeit der Erdölkrise und des Bauboomes. Die Hochhäuser wurden zunehmend als Problem wahrgenommen.
Ich kann mich noch daran erinnern, wie ein Abfallsack für Schlagzeigen sorgte, der aus einem der oberen Stockwerke eines Hochhauses auf die Strasse fiel. Nun wurde auch kritisiert, dass Mütter ihre Kinder nicht mehr aus dem Fenster hereinrufen können oder den Kleinen die Stockwerknummer auf die Hand schreiben mussten. Man fürchtete sich auch vor Ghettoisierung. Dabei waren die Hochhäuser bei den Bewohnern immer beliebt.
In den letzten zwei Jahrzehnten hat nun erneut ein Umdenken stattgefunden. Die Stadt wurde als Lebensraum wieder attraktiv, die Menschen kehrten vom Land zurück. Durch das In-die-Höhe-Bauen erhofft man sich nun mehr Freiraum am Boden bei gleicher Ausnützung. Die Volksinitiative «40 Meter sind genug» wurde deutlich abgelehnt. Das zeigt: Viele Menschen möchten urban leben. Nicht nur das Niederdorf wird geschätzt, man wünscht sich auch ein grossstädtischeres Zürich.
Warum kamen die Hochhäuser eigentlich auf? Geht es nur um die Wirtschaftlichkeit oder auch um Repräsentation für die Stadt und für die Firmen, die dort ihre Büros haben.
Natürlich geht es auch um Repräsentation. Ich würde aber eher von Sichtbarkeit sprechen. Unternehmen wünschen sich Präsenz für ihre Büros, wenn sie schon nicht in der Bahnhofstrasse sind. Und für die Stadt war es eine Möglichkeit ein Zeichen zu setzen, für die Entwicklung von Zürich-West. Es war ein Schritt hin zu einer polyzentrischen Stadt.
Was halten sie von Mega-Hochhäusern wie dem Burj Khalifa in Dubai?
Ich verstehe den Ehrgeiz dahinter, so hoch zu bauen. Die Fragen, die man bei allen Hochhausprojekten stellen sollte, betreffen nicht nur ihre Nützlichkeit und Ästhetik, sondern auch was sie der Öffentlichkeit zurückgeben. Sie sind ja keine Kunst-, Theater- oder Konzerthäuser und werden zum grössten Teil privat genutzt. Aber ich habe das Gebäude noch nicht vor Ort gesehen. Ich kann nur sagen, dass es für uns wichtig war, dass es im Prime Tower ein öffentliches Restaurant gibt, damit jedermann etwas vom Turm haben kann.
Hohe Türme sollten offen sein, weil sie die Wahrzeichen einer Stadt sind wie früher die Kirchen. Reicht da ein schickes Restaurant in der obersten Etage?
Es gibt zuoberst neben dem Restaurant auch eine Bar und ein moderates Bistro, und man kann auch nur Kaffee trinken und Kuchen essen dort. Der Öffentlichkeit wurde das beste Geschoss gewidmet. Im Erdgeschoss wurde zusätzlich eine Cafébar eingerichtet. Aber natürlich würden wir Architekten bei einem solchen Gebäude auch im Erdgeschoss etwas mehr Zugangsmöglichkeiten für die Öffentlichkeit begrüssen.
Musste der Prime Tower unauffällig sein, um akzeptiert zu werden?
Wir wollten das grosse Volumen so gestalten, dass es von den verschiedenen Seiten und Standpunkten aus unterschiedlich erscheint. Von der Waid aus wirkt der Turm schlank, von den Gleisen breit, vom Uetliberg klein. Er ist nicht vollständig verspiegelt und nicht vollständig transparent. Grün ist er, weil es eine typische Glasfarbe ist und weil er damit ein Stückweit auch mit den bewaldeten Hügeln der Stadt kommunizieren kann. Mit seiner gläsernen Hülle verschwindet er ab und zu in der Kulisse der Stadt und dann ist er wieder sehr präsent. Diese Wandelbarkeit hat sicher zur Akzeptanz beigetragen.
Wie geht es in Zukunft weiter? Was halten Ihre Studentinnen und Studenten von Hochhäusern?
In unseren Entwurfssemestern an der ETH sind die Studierenden frei, nach Regelbauweise oder mit Hochhäusern zu projektieren. Es gilt auch im Semesterkurs jeweils das geeignete Konzept, die angemessene Funktion, Form, Materialisierung für die jeweilige Situation finden. In letzter Zeit haben wir uns mit energieeffizienten Bauten beschäftigt, mit Wohnhäusern, die wenig Energie verbrauchen oder sogar zusätzliche Energie produzieren. Hochhäuser sind in dieser Hinsicht nicht die erste Wahl, weil sie beim Bau mehr Energie brauchen und auch im Unterhalt nicht unbedingt sparsamer sind. Allerdings könnte ihre Bilanz zum Beispiel mit Solarpaneelen stark verbessert werden. Auch in dieser Hinsicht sehe ich eine Zukunft für Hochhäuser.
Wofür eignen sich denn Hochhäuser, wenn sie gar nicht so viel effizienter sind als kleinere Bauten?
Hochhäuser sind nicht überall die beste Lösung, aber man kann die Stadt damit strukturieren, einzelne Akzente setzen, Freiräume schaffen bei gleichzeitiger, hoher Ausnützung, wenn man sie gut platziert – wie z.B. den Maagplatz unmittelbar beim Bahnhof Hardbrücke. Modelle wie der «Hochhaus-Cluster» oder die einprägsame «Skyline», zwei Begriffe, die in der Hochhausdiskussion immer wieder auftauchen, sind meiner Ansicht nach nur begrenzt produktiv in der Topographie der Schweiz. Hier sieht man die Bauten nicht nur von der Ebene und vom Hudson-River her und die Horizontlinien bilden hier häufig bereits Hügel und Berge.
Wie ist es eigentlich, einer Stadt den Stempel aufzudrücken mit einem emblematischen Bau wie dem Prime Tower?
Ich würde es so formulieren: Wir konnten das Stadtbild um ein wichtiges Element ergänzen. Es ist kein schlechtes Gefühl. Manchmal bekommen wir sogar Zeichnungen oder Fotografien des Turmes. Stadtbewohner bedanken sich für den schönen Anblick, der sich bei gewissem Wetter oder Lichteinstrahlung ergibt.
Was denken Sie, wenn Sie den Turm sehen?
Es ist ein Objekt, das wir zwar gestaltet haben, das nun aber sein eigenes Leben hat. Ich schaue den Turm immer auch kritisch an, prüfe, ob er seine Rolle gut macht.
Und macht er die Rolle gut?
Von der Waid aus macht er sie gut, von der Hardbrücke auch. Er ist eine Art lichtempfindlicher Wetterreflektor.
Sehen Sie ihn von Ihrem zuhause aus?
Ja, ich sehe ihn von meinen Fenstern, aber ich schaue nur länger hin, wenn wir Gäste haben.
Schauen wir in die Zukunft: Wird die Stimmung wieder drehen und die Hochhäuser wieder zum Feindbild werden?
Man muss die Hochhäuser so gut machen, dass die Menschen gerne darin leben und arbeiten. Wenn es gelingt, dass auch die Passanten, die Stadtbewohner oder sogar die Touristen Gefallen an ihnen finden, bleiben Hochhäuser weiterhin eine Option.
Was sagen Sie zur Kritik an Hochhäusern, etwa dass manche der Stadt den Stempel aufdrücken oder Protzbauten sind?
Die Hochhauskritik kann durchaus berechtigt sein. Es ist nicht an jedem Ort die richtige Lösung. Hochhäuser können auch bedrängend, gestalterisch überladen, aber auch langweilig oder gar grimmig wirken. Es gilt den richtigen Ausdruck und das richtige Konzept zu finden. Dafür braucht es viel Fingerspitzengefühl und es ist nicht immer einfach, denn dazu kommen noch viele andere Faktoren: Statik, Haustechnik, Baugesetze und natürlich auch die Kosten. (aargauerzeitung.ch)