Zwei Wörter bringen es auf den Punkt: Grosser Kanton. In der alemannischen Schweiz wird Deutschland hin und wieder als «grosser Kanton» bezeichnet. Was die enge kulturelle und sprachliche Verbundenheit dokumentiert. Die Schweiz als Kanton, als Gliedstaat Deutschlands.
Nur bei so enger Verflechtung wird aus einem sportlichen Wettstreit ein Ereignis mit kultureller und politischer Bedeutung, das für ein paar Tage auch dort zum Gesprächsstoff wird, wo sonst Theater und Museumsbesuche wichtiger sind als Sport. Die gemeinsame Sprache ermöglicht im digitalen Zeitalter Einblicke in die gegnerische Gefühlslage, erleichtert Prognosen, Provokationen und sogar Schmähungen.
Eine wahre und gelebte Rivalität mit Deutschland, gibt es inzwischen sowieso nur noch im Eishockey, einem unberechenbaren, rauen Spiel. Dazu passt, dass kräftige Kerle in ritterähnlichen Ausrüstungen, helmbewehrt und auf eisernen Kufen mit Stöcken aufeinander losgehen und sich hin und wieder sogar vaterländisch prügeln. Als sei es ein Replay des Freiheitskampfes der Eidgenossen, des Schwabenkrieges, der uns am Ende des 15. Jahrhunderts die Unabhängigkeit von der deutschen Herrschaft gebracht hat.
In der Weltgeltung können wir auf verschiedensten Gebieten keine Rivalen der Deutschen sein: Goethe wird nun mal mehr gelesen als Gotthelf. Rainer Werner Fassbinder ist wichtiger als Franz Schnyder und Martin Luther bewegte mehr als Ulrich Zwingli. Graf Zeppelin ist berühmter als Oskar Bider und Albrecht Dürer als Künstler bedeutender als Albert Anker. Es ist wahrlich eine gute Sache, dass sich heute niemand mehr vor Deutschland fürchten muss. Auch wenn es ab und zu noch zu verbalen Entgleisungen kommt wie die des deutschen Finanzminister Peer Steinbrück (SP), der im Zusammenhang mit unserem Finanzplatz von der Kavallerie schwadronierte, mit der man den Schweizern drohen müsse wie einst im Wilden Westen den Indianern. Was für erhebliche Verstimmung sorgte.
Im Hockey darf die Rivalität hingegen auch verbal ausgelebt werden. Legendär der Spruch des ehemaligen deutschen ZSC-Trainers Hans Zach («Alpenvulkan») über den vermeintlichen ZSC-Weichling Michel Zeiter. Er hatte gelesen, dass der Leitwolf mit den weissen Schlittschuhen gerne Chirurg geworden wäre.
In einem solchen Fall würde Patrick Fischer als Lichtgestalt unserer feinsinnigeren Hockeykultur sagen:
Die Schweizer haben Hans Zach später ordentlich heimgeleuchtet: 2004 qualifizierten wir uns in Prag dank eines Sieges über Deutschland (1:0) auf Kosten der Deutschen für den WM-Viertelfinal. Hans Zach, inzwischen als Bundestrainer zur höchsten Hockey-Autorität im Land aufgestiegen, war ob dieser Niederlage so erschüttert, dass er sein Amt sofort niederlegte.
Natürlich gibt es auch eine Rivalität im Fussball. Sie wird im Sommer beim europäischen Titelturnier aufleben, wenn die Schweiz gegen Deutschland spielt. Aber eine echte Rivalität ist das nicht: Der letzte Sieg der Schweizer über die Deutschen in einem wichtigen Spiel liegt über ein halbes Jahrhundert zurück: 4:2 bei der WM von 1938 in Paris. Zudem ist die kommerzielle und sportliche Bedeutung unseres Fussballs (bisher nur WM-Viertelfinalist) im Vergleich zu jener des Weltmeisters von 1954, 1974, 1990 und 2014 zwergenhaft. Dabei haben die Schweizer doch an Fussball-Titelturnieren schon Titanen wie Spanien, Italien oder Frankreich gebodigt und gegen England und Brasilien gepunktet. Aber eben nicht gegen die Deutschen.
Im Eishockey begegnen sich Deutschland und die Schweiz hingegen seit Anbeginn der Zeiten mehr oder weniger auf Augenhöhe. Weltmeister waren beide noch nie. Aber in der Neuzeit beide zweimal im Final: Die Schweizer 2013 und 2018, die Deutschen 2018 (Olympische Spiele) und 2023.
Deshalb haben Siege für die Deutschen und für die Schweizer im Hockey einen so hohen Stellenwert wie eh und je. Sportlich und emotional.
Unvergessen, wie Torhüter Dennis Endras nach dem 1:0 im WM-Viertelfinal von 2010 in Mannheim gegen die Schweiz mit einer überdimensionierten Deutschland-Fahne eine Ehrenrunde drehte. Eine solche Szene ist im Falle eines Sieges der Deutschen gegen die Schweizer am 23. Juni im Rahmen der Fussball-Euro in Frankfurt völlig undenkbar. Sie wäre lächerlich.
Rutschiges Eis ist also die letzte Bühne, auf der die Rivalität zwischen Deutschland und der Schweiz nach Herzenslust zelebriert werden darf und die einzige, auf der wir mit Ruhm und Ehre rechnen dürfen.
Wir haben nach offizieller Statistik gegen Deutschland immerhin 70 Mal gewonnen und «nur» 76 Mal verloren. Im Fussball feierten wir in 53 Begegnungen bloss neun Siege und im Handball ist es noch schlimmer: Magere sechs Siege in 70 Länderspielen. In frischer Erinnerung ist die Demütigung (14:27) bei der Handball-EM am 10. Januar 2024.
Das etablierte, beinahe in Stein gemeisselte Bild der Hockey-Rivalität gilt seit gut hundert Jahren: Wir mögen besser ausgebildet, unsere Liga mag reicher sein, bei uns werden die höheren Löhne bezahlt und Eishockey hat in der Schweiz den höheren Stellenwert als in Deutschland. Doch wenn es darauf ankommt, sind wir im Kopf schwächer.
Die beiden aktuellen Nationaltrainer stehen für dieses Klischee: der eloquente Nonkonformist Patrick Fischer, schon als Stürmer ein Vertreter des dynamischen, kreativen Kunsthockeys gegen den stockkonservativen Taktiker und ehemaligen Verteidiger Harold Kreis.
Noch selten war der hockeykulturelle Gegensatz so ausgeprägt wie heute.
Auch wenn die Deutschen in der Neuzeit bei WM-Viertelfinals dreimal hintereinander siegreich waren (2010, 2021, 2023) plus im olympischen Achtelfinal (2018) und die Schweizer zuletzt im vergangenen Jahrhundert im WM-Viertelfinal triumphiert haben (1992 in Prag): Die Ausgangslage ist offen. Eishockey war, ist und bleibt die einzige wahre Rivalität, bei der wir dazu in der Lage sind, die Deutschen auf Augenhöhe herauszufordern und bei der die Deutschen uns ernst nehmen. Das einzige echte internationale Kantonalderby eben.
🤔
Der Chlöisu meint wohl:
Deutschland als Kanton, als Gliedstaat der Schweiz.
Ja, wir sind alle schon ganz aufgeregt. Ich mache heute um 15 Uhr Feierabend, Chips holen, Glotze anwerfen..