Beginnen wir mit etwas Taktik. Wer daran nicht interessiert ist, möge den ersten Abschnitt überspringen. Acht Ausländer aus dem hohen Norden und Amerika hat Luca Cereda zur Auswahl: Einen Torhüter, drei Verteidiger und vier Stürmer. Aber nur sechs darf er im Spiel einsetzen. Anfänglich hat ihm diese Qual der Wahl schlaflose Nächte gekostet. «Weil es so viele Möglichkeiten gibt.»
Nun hat er den «Geheimcode» herausgefunden und Ambri steht auf dem 2. Platz der Tabelle: Drei Verteidiger müssen es sein. Mit Jesse Virtanen, Kodie Curran und Tim Heed in der Abwehr hat Ambri nun sechsmal gewonnen: In Zug, gegen Biel, Davos, Servette, in Kloten und nun das Derby gegen Lugano. Der erste Heimsieg mit drei Punkten. Wie lange diese Magie wirkt, ist ungewiss. Weil es ja noch drauf ankommt, ob neben den drei Verteidigern drei Stürmer oder zwei Stürmer und ein Goalie zum Zuge kommen. Ende der taktischen Ausführungen.
Zu Ambris besonderer Kultur der Dramatik passt: Die Qual der Ausländerwahl hat einen heimlichen Sieger mit Schweizer Pass: Torhüter Gilles Senn. Geadelt mit einem NHL-Einsatz und der Berufung als Nummer 3 ins WM-Silberteam von 2018. Aber noch nie die glückliche Nummer 1 in der Liga.
Ist Gilles Senn also ein ewiges Talent? Vielleicht doch nicht. Nun ist er nämlich im Alter von 28 Jahren so gut wie noch nie. Sechs Spiele hat er bestritten, der Finne Janne Juvonen vier. Fünfmal hat er gepunktet und zwei grosse Siege gestohlen: Den Verlängerungssieg gegen Davos (2:1) mit einer Fangquote von 96,77 Prozent und nun wehrte er beim 2:1 gegen Lugano gar 97,50 Prozent der Pucks ab. Mit 92,70 Prozent ist seine Abwehrquote über die ganze bisherige Saison so gut wie noch nie.
Sportchef Paolo Duca zitiert nach dem Derby-Drama strahlend eine nordamerikanische Hockey-Weisheit:
Will heissen: Entweder du hast die richtige Postur oder nicht. Gilles Senn ist ein freundlicher Riese: 195 Zentimeter gross, 99 Kilo schwer. Die richtige Postur also.
Vielleicht hat Gilles Senn in Ambri mit Pauli Jaks endlich den richtigen Torhütertrainer gefunden. Pauli Jaks war zwar kein Riese (183 cm), aber auch seine Karriere ist mit einem NHL-Spiel gekrönt worden (mit den Los Angeles Kings, das erste NHL-Spiel eines in der Schweiz ausgebildeten Spielers) und auch er war ein hochtalentierter, aber sensibler Goalie. Vielleicht ist das ein Fingerzeig für die Zukunft von Philip Wüthrich.
Für reichlich Dramatik und Emotionen sorgen schon zwei nach Interventionen der Coaches und Bilder-Studium aberkannte Tore (Offside): Inti Pestonis 2:1 (46. Min.) und Michael Jolys Ausgleich zum 2:2 nur 37 Sekunden nach Ambris Siegestreffer. Aber ein Finale Furioso übertrifft alles. Zum vierten Mal in dieser Saison ersetzt Ambris Gegner den Torhüter durch einen sechsten Feldspieler. Und erneut gelingt Ambri kein Treffer ins leere Tor.
Aber Dario Bürgler und Inti Pestoni beweisen spektakulär, dass sie zu den besten Kunstschützen der Liga gehören: Sie treffen aus nächster Nähe (also nicht mit einem Versuch aus der eigenen oder neutralen Zone heraus) den Pfosten des leeren Tores. Diese Präzision, die schiere Unmöglichkeit, solche Treffer zu wiederholen, mahnen an Wilhelm Tell, der seinem Bub Walterli einen Apfel vom Kopf geschossen hat. Der einzige Unterschied: Tells Treffer hatte Folgen von historischen Dimensionen, Dario Bürglers und Inti Pestonis Kunstschüsse bleiben ohne Auswirkungen auf die Zeitgeschichte.
Was für eine Verzweiflung in der ausverkaufen Arena! «Das ist mir noch nie passiert», sagt Dario Bürgler. Was etwas heissen will: Er ist immerhin schon 36 und hat bereits 980 Partien in der höchsten Liga gespielt. Er habe sich so sehr konzentriert und dann habe sich der Puck irgendwie aufgestellt. Es ist eben ein unberechenbares Spiel auf rutschiger Unterlage.
Inti Pestoni, auch schon 33 und erfahren aus 732 Partien bringt den Puck auch nicht ins leere Tor und trifft ebenfalls aus nächster Nähe den Pfosten. Er nimmts mit der ihm eigenen Gelassenheit und dem in Ambri so stark ausgeprägten Sinn für Teamgeist: «Ich habe es aus Solidarität mit Dario Bürgler so gemacht.»
Trainer Luca Ceredas Schlussfolgerung:
Die Trainings-Übung könnte wohl gar ein Chronist anleiten.
Gab es schon oft so viel Dramatik, Romantik, hochklassiges Eishockey und Nostalgie in Ambris neuem Hockey-Tempel? Wahrscheinlich nicht.
Dieses Derbys hat nämlich auch einen alten Helden mitgerissen und inspiriert: John Fritsche. Der amerikanisch-schweizerische Doppelbürger aus Cleveland erspielt sich zwischen 1983 und 2003 in Ambri und Zug Kultstatus. Er hat Ambri (1985) und Zug (1987) in die höchste Liga zurückgeführt, zwei Jahre (1991 bis 1993) die Pensionskasse in Lugano aufgefüllt, ist nach Ambri zurückgekehrt und war dort in seinen zwei letzten Karriere-Jahren (2001 bis 2003) sogar Captain.
Vor drei Jahren ist er aus den USA wieder in die Schweiz heimgekehrt und hat sich dazu entschieden, mit seiner Familie im Tessin zu bleiben. Nun ist er fürs Derby zum ersten Mal überhaupt in seinem Leben in Ambri im neuen Hockey-Tempel und man hat ihm einen Sitzplatz ausgerechnet neben dem Chronisten zugewiesen.
Reichlich Gelegenheit, alte Geschichten auszutauschen und – natürlich – eine Frage zu stellen, die zur Hockey-Romantik gehört: Er hat ja Kultstatus in Zug und in Ambri. Ist er nun Zuger oder Leventiner? Der alte Haudegen sagt spontan:
Schöner hätten es die Hockey-Götter nicht formulieren können und Ernest Hemingway hätte gesagt: Der alte Mann und das Eishockey.
Aktuelle
Note
7
Ein Führungsspieler, der eine Partie entscheiden kann und sein Team auf und neben dem Eis besser macht.
6-7
Ein Spieler mit so viel Talent, dass er an einem guten Abend eine Partie entscheiden kann und ein Leader ist.
5-6
Ein guter NL-Spieler: Oft talentierte Schillerfalter, manchmal auch seriöse Arbeiter, die viel aus ihrem Talent machen.
4-5
Ein Spieler für den 3. oder 4. Block, ein altgedienter Haudegen oder ein Frischling.
3-4
Die Zukunft noch vor sich oder die Zukunft bereits hinter sich.
Die Bewertung ist der Hockey-Notenschlüssel aus Nordamerika, der von 1 (Minimum) bis 7 (Maximum) geht. Es gibt keine Noten unter 3, denn wer in der höchsten Liga spielt, ist doch zumindest knapp genügend.
Punkte
Goals/Assists
Spiele
Strafminuten
Er ist
Er kann
Erwarte