Ich kann mich einfach nicht an diese Geisterspiele gewöhnen. Sie nehmen dem Spiel die Seele. Dabei ist es ja so bequem. Parkieren vor dem Gasthof zum goldenen Löwen, der Beiz neben dem Stadion.
Aber so ist Hockey kein Erlebnis. Schon die Vorfreude fehlt. Am dunklen Himmel über dem Tal schimmert noch gespenstisches Restlicht. Die Strassen sind fast leer. Nicht einmal beim Kreisel bei der Dorfeinfahrt staut sich der Verkehr. Keine Fans, die auf den Trottoirs der Güterstrasse, dieser Via Triumphalis des Emmentaler Sportes, dem Stadion zustreben. Keine Spannung in der Luft. Eine halbe Stunde vor dem Spiel nur Dunkelheit und Leere. Der österreichische Dichter Erich Fried (1921 bis 1988) hat nie ein Geisterspiel gesehen. Weil es zu seiner Zeit noch keine Geisterspiele gab. Und doch hat er diese triste Stimmung wunderbar in Gedichtform eingefangen. Wer kein Faible für Lyrik hat, möge diese Zeilen überspringen.
Diese Leere
Wie leer ist es, da, wo etwas war
Wo WAS war?
Etwas, was nicht mehr da ist
Und ist es nicht mehr da?
Warum nicht?
Und wirklich nicht?
Kann es nicht wieder da sein?
Darf es nicht wieder da sein?
Wie gross muss es gewesen sein,
Was da war,
dass alles jetzt,
wenn es vielleicht nicht mehr da ist
oder vielleicht nicht mehr da sein wird,
so leer ist, dass Leere in Leere übergeht
oder untergeht
oder ruht?
Eine Stadt wie Zürich oder Bern oder Genf oder Lausanne schläft um diese Zeit nicht. Dort ist noch Leben in den Strassen. Die Leere wirkt nicht so deprimierend. Aber in Langnau gibt es ohne Hockey um 19.00 Uhr, wenn die Dunkelheit herabfällt, kein Leben mehr. Mit Bertold Brecht können wir sagen: Stell Dir vor, es wird Hockey gespielt und niemand geht hin.
Am traurigsten ist im Stadion die Umwandlung des Tigersaals in einen temporären Kraft- und Trockentrainingsraum der Spieler. Da wird es einem, an der geschlossenen Theke, wo sonst Speis und Trank von freundlichem Personal dargereicht wird, schwer ums Hockeyherz. Geisterspiele, Geistersaal, Geistertheke. Offensichtlich ist der Glaube an eine baldige Rückkehr zur Normalität verloren gegangen.
Ach, wie könnte das Dorf jetzt vibrieren! Was für ein Tollhaus könnte der Hockey-Tempel an der Ilfis sein. Reizfigur Chris DiDomenico (31) kommt mit Gottéron ins Emmental. Sechs Jahre lang hat er hier jede Rolle gespielt: Lichtgestalt. Enfant Terrible. Verräter. Aber vor allem: Aufstiegsheld und Playoffheld. Die Fans nehmen es ihm nicht einmal übel, dass er noch im laufenden Abstiegskampf im Februar 2017 die Mannschaft im Stich lässt, um dem Traum NHL nachzujagen. Als er reumütig zurückkehrt, wird er wie der verlorene Sohn aus dem Buch der Bücher wieder in die grosse Hockeyfamilie aufgenommen.
Aber dann ist er Ende der letzten Saison doch mit Donnerhall und Krach erneut gegangen. Dieses Mal ohne Wiederkehr. Um sein Glück ausgerechnet bei Gottéron zu suchen. Noch immer sind sich die Fans nicht ganz einig, wer an dieser Scheidung schuld ist. Der grantige Trainer? Der sture Sportchef? Nun sind beide jedenfalls nicht mehr im Amt. Oder ist Chris DiDomenico einfach ein Kindskopf, der nicht erträgt, wenn es nicht nach seinem Kopf geht?
Nun kehrt er also mit Gottéron an die Ilfis zurück. Zum ersten Mal. Die perfekte Ausgangslage für ein Spektakel. Für Emotionen. Für ein Drama.
Und es wird ein Drama! Die Hockeygötter haben das perfekte Drehbuch geschrieben. Haudegen Sebastian Schilt (33) bringt den vorbeifahrenden Chris DiDomenico zu Fall. Der Kanadier fliegt mehr als er stürzt. Und so sehen es auch die Schiedsrichter und schicken ihn wegen eines vorgetäuschten Fouls (Schwalbe) auf die Strafbank (14.). Wie hätte ihn das Publikum da geschmäht! Lausbub! Feigling! Verräter! Und dann nützt Langnau diesen Ausschluss gar zum 1:0. Das Publikum hätte getobt, dass sich die Raben, die sich mit geputztem Gefieder hoch oben auf Dürsrüti bereits zur Nachtruhe niedergelassen haben, erschrocken aufgeflogen wären.
Aber da ist nur Leere im Stadion. Nur das Kratzen der Schlittschuhe auf dem gefrorenen Wasser ist zu hören.
Und dann schlägt es ein bei Torhüter Ivars Punnenovs. Ausgerechnet Chris DiDomenico hat die Scheibe fünf Sekunden vor der ersten Pause zum 1:1 ins Tor abgelenkt. Das Publikum hätte ihn ausgepfiffen, dass es einem durch Mark und Bein gefahren wäre.
Aber da ist nur Leere im Stadion. Nur das Kratzen der Schlittschuhe auf dem gefrorenen Wasser ist zu hören.
Und dann dieses Finale. Chris furioso. 90 Sekunden vor Schluss fädelt er Yannick Herrens Ausgleich zum 3:3 ein. Und in der Verlängerung Ryan Gundersons Siegestreffer zum 4:3. Eine emotionale Schockstarre hätte das Publikum erfasst, die sich erst nach und nach in Applaus für die tapfere Darbietung der Langnauer – drei Pfostentreffer! – aufgelöst hätte. Und nun wissen wir nicht, ob sich die Fans vor Chris DiDomenico verneigt und ihn mit Applaus oder ob sie ihn mit Schmähungen verabschiedet hätten. Sicherlich wären an den Wirtshaustischen da und dort anerkennende Worte gefallen. Ach, wäre er doch bei uns geblieben!
Aber im leeren Stadion ist es ein Drama ohne Dramatik. Da ist nur Leere. Bis zum Schluss ist nur das Kratzen der Schlittschuhe auf dem gefrorenen Wasser zu hören.
Chris DiDomenico hat sich ausgerechnet in seiner ersten Partie gegen die SCL Tigers zum Topskorer seines Teams gemacht. Trainer Christian Dubé (43) ist sehr zufrieden mit seinem Landsmann und sagt, er werde ihn auch am Samstag in Bern einsetzen. Obwohl er ja fünf einsatzfähige Ausländer hat. Es ist ihm ganz offensichtlich gelungen, den Widerspenstigen zu zähmen. Aber das Spiel, das erste nach einer zehntägigen Quarantäne, findet er «horrible» («schrecklich»). Er meint nicht die Qualität. Er meint die Ambiance. «Kein Publikum und keine Emotionen. So macht es doch keinen Spass. Was wäre hier bei der Rückkehr von Chris los gewesen!» Er vermisst die Emotionen und wird ein bisschen nostalgisch: «Das kann es einfach nicht sein. Wenn ich daran denke, was los war, als ich noch in Lugano spielte. Oder in Bern! Und die Stimmung bei uns in Fribourg!».
Nun können wir sagen: Wenigstens wird gespielt. Hört auf zu jammern. Aber Christian Dubé war ein leidenschaftlicher Hockeyspieler und er wird auch als Trainer von dieser Leidenschaft getrieben.
Die erstaunliche Erkenntnis aus diesem Spiel: Chris DiDomenico braucht den Treibstoff der Emotionen nicht. Er macht sein Spiel, er tanzt seinen Hockey-Rock’n’Roll mit und ohne Publikum. Als lebe er in einer ganz eigenen Welt. Und so fügt er nach dem Spiel im Interview so ziemlich nach jeder Antwort noch an: «… aber die Hauptsache, wir haben zwei Punkte geholt.» Und ganz artig lobt er die Langnauer. Und hält den Puck flach. Er lässt sich keine provokativen Aussagen entlocken.
Geisterspiel ist, wenn Chris DiDomenico eine triumphale Rückkehr nach Langnau feiert und niemand da ist, um ihn zu schmähen oder zu feiern.