Als Andrea Pirlo Ende Juli als Trainer der U23 zu Juventus Turin zurückkehrte, war allen klar: Der Weltmeister von 2006 sollte mehr als nur ein Nachwuchstrainer sein. Pirlo wurde im Gegensatz zu seinen Vorgängern bei einer Pressekonferenz vorgestellt, sogar Präsident Andrea Agnelli war vor Ort – er, der bei der Medienkonferenz nach der Ankunft von Maurizio Sarri ein Jahr zuvor noch gefehlt hatte.
Und Agnelli machte kein Geheimnis daraus, dass er Pirlo als zukünftigen Trainer für die erste Mannschaft zurückgeholt hat. «Das ist das Ziel, ja», erklärte der Präsident damals. «Es ist ein Weg, den er sich verdienen muss. Und das ist die erste Etappe.»
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Der Plan war klar: Pirlo sollte in der U23 ein, zwei Jahre erste Erfahrungen sammeln, um dann die erste Mannschaft zu übernehmen. Wie einst Pep Guardiola und Zinédine Zidane, die bei Barcelona und Real Madrid den selben Weg gingen und später die Champions League gewinnen konnten. «Natürlich würden alle gerne diesen Weg gehen», sagte Pirlo damals und ergänzte: «Aber man muss sich das verdienen. Mit der Zeit und mit Erfahrung.»
Nicht einmal zehn Tage später ist diese erste Etappe bereits Geschichte. Nach der Entlassung von Maurizio Sarri wurde Pirlo am Samstag zum neuen Cheftrainer ernannt. Ohne zuvor ein einziges Training mit der U23 geleitet zu haben. Ohne zuvor je ein Team betreut zu haben.
Dennoch hat es eine gewisse Logik, dass Juve nach der Entlassung Sarris sich für eine interne Lösung entschieden hat. Es fehlte schlicht an Alternativen: Aufgrund der kurzen Sommerpause wäre es schwierig gewesen, einen der beiden Wunschkandidaten Zinédine Zidane oder Simone Inzaghi aus aus Madrid oder Rom wegzulotsen. Antonio Conte, bei dem zuletzt über ein Abgang von Inter spekuliert wurde, soll nach seinem Abgang aus Turin 2014 kein gutes Verhältnis zu Andrea Agnelli haben.
Und die drei grossen Namen, welche derzeit vereinslos sind, konnten auch nicht restlos überzeugen: Mauricio Pochettino hat keinerlei Erfahrung im italienischen Fussball und soll mindestens 10 Millionen Euro pro Jahr fordern, Luciano Spalletti war zuletzt mit Inter nur mässig erfolgreich gewesen und mit einer Rückkehr von Massimiliano Allegri hätte die Vereinsführung einen grossen Fehler eingestehen müssen.
Nun also Pirlo. Ein Mann, der für die Wiederauferstehung von Juventus steht. Mit seinem Wechsel nach Turin 2011 kehrte der Erfolg zurück. Neun Titel gewann die «Alte Dame» seither in Serie, bei den ersten vier gehörte Pirlo als Spieler zu den prägenden Figuren. Aufgrund seiner Juve-Vergangenheit sei er eine logische Lösung als Cheftrainer, erklärte Sportchef Fabio Paratici: «Wir kennen ihn, er hat für uns gespielt und wir standen seither immer in Kontakt. Wir denken, dass er prädestiniert ist. Er war es als Spieler und wir sind überzeugt, dass er es auch als Trainer sein kann.»
Tatsächlich scheint Pirlo auch als Trainer viel Potential zu haben. Renzo Ulivieri, der als Direktor des Trainer-Ausbildungszentrum Pirlos Weg zuletzt genau verfolgte, ist von dessen Qualitäten überzeugt: «Wenn wir über Wissen sprechen, gehört Pirlo zu den besten der Welt. Das ist so, weil er sich vorbereitet hat. Er ist überzeugt, aussergewöhnlich. Er ist nicht beim Fussball seiner Zeit geblieben. Er hat etwas davon behalten und ging dann weiter, immer weiter.»
Wie Pirlos Idee von Fussball aussieht, weiss aufgrund seiner fehlenden Erfahrungen noch niemand so genau. Er möge das 4-3-3-System mit viel Ballbesitz, sagte der einstige Weltklasse-Mittelfeldspieler vor einigen Wochen – damit also genau die Formation, mit der Juve zuletzt unter Sarri auflief. Zudem berichten italienische Medien, Pirlo wolle die Verjüngung des in die Jahre geratenen Kaders vorantreiben. Altgediente Spieler wie Gonzalo Higuain, Blaise Matuidi und Sami Khedira werden Turin wohl verlassen, an ihrer Stelle sollen Talente wie etwa Nicolo Zaniolo oder Sandro Tonali kommen.
Zudem dürfte Pirlo von Beginn weg auf die beiden Neuzugänge Arthur und Dejan Kulusevski setzen. Und nach wie vor zentral wird Superstar Cristiano Ronaldo sein. «Wenn Juve die Champions League gewinnen will, braucht sie gute Flügelspieler. Es kann nicht sein, dass Ronaldo so wenige Bälle erhält», analysierte Pirlo vor einem guten Jahr die Probleme Juves.
Ein Trainer-Talent, das mutigen Offensiv-Fussball spielen lassen und auf die Jungen setzen will – auf dem Papier tönt das Experiment Pirlo verlockend. Trotzdem sind viele Kenner skeptisch. Die fehlende Erfahrung könnte zum Verhängnis werden, befürchten viele, zudem dürfe man nicht erwarten, dass ein ehemaliger Weltklasse-Fussballer zwingend ein Weltklasse-Trainer wird.
So meinte etwa der heutige Napoli-Trainer Gennaro Gattuso, ein langjähriger Weggefährte Pirlos: «Wer mal ein grosser Spieler war, muss genau das zuerst ablegen. Trainer ist ein schwieriger Job, man muss lernen, arbeiten und schläft wenig. Es reicht nicht, wenn man eine grosse Karriere hatte. Aber ich wünsche Andrea viel Glück dabei.»
Auch bei den Fans sind nicht alle von der Beförderung Pirlos begeistert. Auch ihnen bereitet die fehlende Erfahrung Sorgen. Denn noch ist es nicht lange her, dass letztmals ein grosses italienisches Team mit einem ähnlichen Experiment scheiterte: Im Sommer 2014 sollte Vereinslegende Filippo Inzaghi, zuvor erst Trainer der U19, die AC Milan zurück zu alter Grösse führen. Es sollte nicht gelingen, im Gegenteil: Nach nur 14 Siegen in 40 Spielen endete Inzaghis Abenteuer auf der Milan-Bank vorzeitig.
Wünsche Pirlo viel Erfolg! Die Aufgabe ist gigantisch.