Turbulent wäre noch eine Untertreibung für den aktuellen Zustand beim FC Aarau. Nur Platz 6 in der Tabelle. Am Samstag verspielt der FCA eine 2:1-Führung gegen Lausanne-Ouchy eine 2:1-Führung in der Nachspielzeit und steht am Ende ohne Punkte da. Zu viel für den harten Kern der Fans. Sie konfrontieren die Spieler auf dem Rasen, es kommt zu Schubsereien. Auch zur Geschäftsstelle versuchen sich die Anhänger gewaltsam Zutritt zu verschaffen, eine Scheibe wird eingeschlagen.
Klubpräsident Philipp Bonorand erlebte alles mit. Im Interview erzählt er, ob die Spieler gefährdet waren, weshalb der Capo der Fanszene zur der Mannschaft in die Kabine durfte und wie ihm die Situation persönlich zusetzt.
Wie haben Sie geschlafen?
Philipp Bonorand: Sicher etwas kürzer als auch schon. Inzwischen habe ich aber genug Lebenserfahrung, um doch einigermassen zur Ruhe zu kommen. Auch wenn etwas Derartiges passiert ist.
Dieser Samstagabend dürfte Ihre dunkelste Stunde als Präsident des FC Aarau sein.
Das ist zweifellos so. Es geht mir sehr an die Nieren, und auch ich muss das Erlebte erst einmal verarbeiten.
Als die Fans nach Schlusspfiff den Rasen betraten und die Mannschaft zur Rede stellten, waren auch Sie dort anzutreffen. Was konnten Sie in diesem Moment ausrichten?
Unser Sicherheitschef hat mich gebeten, ich solle mit zu den Fans nach vorne kommen. Ich habe versucht, den ein oder anderen Vertreter aus der Szene Aarau zu beruhigen.
Die Aarauer Spieler wurden nicht nur angeschrien, sondern vereinzelt auch geschubst.
Das ist richtig. Es war keine schlimme körperliche Gewalt, aber es war extrem unschön, um es mal so zu formulieren.
Auch der Fanbeauftragte Benjamin Zumstein war zugegen. Was war seine Rolle?
Benji hat geholfen, zu beschwichtigen und die Fans zurückzuhalten. Es war unter anderem auch sein Verdienst, dass sich die Situation auf dem Rasen im ersten Moment beruhigt hat.
Entspannt hat sich die Lage aber nicht. Im Gegenteil. Hinter der Haupttribüne wollten sich die Fans anschliessend Zutritt zum Stadion verschaffen. Eine Scheibe wurde eingeschlagen und die Eingangstüren mussten mit Sicherheitsgittern verschlossen werden.
Um die Situation laufend zu beurteilen, war ich in engem Austausch mit den Personen vom Sicherheitsteam. Diese schätzten die Lage als brenzlig ein. Sie waren der Ansicht: Die Fans meinen es ziemlich ernst und würden im Zweifel das Stadion stürmen. Darum haben wir reagiert, die Sicherheitsgitter gezogen und die Mannschaft gebeten, in der Kabine zu bleiben.
Bestand die Gefahr, dass Spielern oder Trainern etwas zustossen könnte?
Ich persönlich glaube nicht, dass die Fans mit dem Vorsatz ins Stadion gestürmt wären, jemanden zu verletzen. Aber bei einer solch grossen Gruppe, wo auch Alkohol und andere Substanzen im Spiel sind, kann man sich nie sicher sein. Der Schutz aller Beteiligten stand im Vordergrund.
Was haben die Vertreter der Ultraszene gefordert?
In erster Linie wollten sie, dass die Spieler ihr Matchtrikot hergeben. Die Mannschaft stellte sich auf den Standpunkt, dass sie das nicht machen würde. Letztlich lag die Entscheidung bei mir als Präsident, ob wir auf diese Forderung eingehen oder nicht.
So weit ist es dann nicht gekommen, die Spieler durften ihre Leibchen behalten. Weshalb?
Irgendwann entschieden wir, dass sich der Capo der Szene Aarau mit mir im Vier-Augen-Gespräch austauschen könne. Was in diesem Gespräch besprochen wurde, bleibt intern. Jedenfalls willigte der Capo ein, dass sie auf die Trikots verzichten würden. Im Gegenzug durfte er die Ansichten der Szene Aarau direkt an die Mannschaft weitergeben. Ich bin dann mit ihm in die Garderobe gegangen, wo er in anständiger Art und Weise zu den Spielern gesprochen hat.
Und wenig später haben sich die Fans schliesslich vom Stadiongelände entfernt.
Genau. Wir haben eine Lösung gefunden, die die Situation entspannt hat.
Als es letzten Herbst nach der 1:6-Niederlage in Wil zur Aussprache zwischen Fans und Mannschaft kam, äusserten sie noch gewisses Verständnis für das Verhalten der Anhänger. Wie ist es jetzt?
Man darf enttäuscht sein, keine Frage. Doch ich kann in keiner Weise nachvollziehen, dass eine solche Eskalation wie am Samstagabend gerechtfertigt ist. Die Reaktion steht in keinem Verhältnis zu unserer derzeitigen sportlichen Lage.
Sind solche drastischen Aktionen von Fans häufiger geworden?
Ich glaube, dass die Radikalität zugenommen hat. Früher, als ich als Fan in der Kurve stand, konnte man normal miteinander sprechen. Vielleicht ist das der heutige Zeitgeist. Die Leute dürfen auch nicht vergessen, um was es geht. Fussball ist immer noch ein Spiel, das uns Freude bereiten soll. Wir sind nicht im Krieg. Und es hilft uns nicht, wenn wir uns gegenseitig fertig machen.
Werden Stadionverbote für die fehlbaren Fans ausgesprochen?
Das Sicherheitsteam und die Polizei werden die Situation aufarbeiten und uns zu gegebener Zeit informieren. Was dabei herauskommt, weiss ich zum jetzigen Stand nicht.
Die Aarauer Spieler dürften nach diesen Vorkommnissen noch verunsicherter sein als ohnehin schon.
Das kann ich nicht so eindeutig sagen. Der eine kann das sicherlich gut wegstecken, der andere ist unsicher, wiederum ein anderer zeigt Trotz. Da wird es die ganze Palette geben.
Tut man der Mannschaft noch einen Gefallen, wenn man weiterhin vom Aufstieg als Ziel spricht?
Wir haben unser Ziel zu Saisonbeginn definiert. Es macht keinen Sinn, dieses während der Saison zu revidieren. So lange etwas erreichbar ist, muss man es probieren. Und wenn wir unser Ziel bei Saisonende verpasst haben, dann haben wir es verpasst. Das passiert – und dazu muss man auch stehen. (aargauerzeitung.ch)