Das Einzige, das aus Schweizer Sicht im «Vogelnest» fehlte, war ein richtiger Exploit. Klar ist der 6. Rang von Hürdensprinterin Noemi Zbären ein hervorragendes Resultat und war nicht erwartet worden. Die erst 21-jährige Emmentalerin musste dafür allerdings keine Glanzleistung abrufen – und im Final holten mit der Deutschen Cindy Roleder und der Weissrussin Alina Talay zwei Läuferinnen eine Medaille, die von den Fähigkeiten her im Bereich von Zbären sind.
Kariem Hussein (9.), Europameister über 400 m Hürden, und 800-m-Läuferin Selina Büchel (10.) fehlte hingegen (auch) das Wettkampfglück. Hussein verpasste den Final um fünf Hundertstel, Büchel um sechs.
Gerade das Beispiel von Hussein zeigt, wie nahe Erfolg und Misserfolg beieinander liegen: Hätte er im Halbfinal nach der letzten Hürden den Schwung besser mitnehmen können, hätte er das Ziel wohl vor dem unmittelbar vor ihm klassierten Kenianer Nicholas Bett erreicht und diesen rausgeworfen. Bett wurde zwei Tage später souverän Weltmeister. «Ich bin sicher, auch Kariem hätte im Final noch zugelegt», sagte Peter Haas, der Chef Leistungssport von Swiss Athletics.
Auch für Büchel wäre im Final ein Podestplatz nicht unmöglich gewesen, lief sie doch im Halbfinal die zweitbeste Zeit ihrer Karriere. Sie deutete ihr Potenzial ein weiteres Mal an, was ihr auch im Hinblick auf die Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro noch einmal Auftrieb geben dürfte. Schliesslich bestritt die 24-jährige Toggenburgerin – wie auch Hussein – ihre erste Freiluft-WM. Insofern bezahlten die beiden grössten Hoffnungsträger im Schweizer Team auch etwas Lehrgeld.
Mit Mujinga Kambundji als Zehnte über 200 m schaffte eine vierte Schweizerin den Sprung in die Top 10. Die 23-jährige Berner stellte zudem drei nationale Rekorde (eine Egalisierung über 100 m) auf. Ihre Bestzeit über 100 m, wo sie Zwölfte wurde, verbesserte sie um einen Zehntel, jene über die halbe Bahnrunde um 16 Hundertstel. Der Formaufbau stimmte also und auch die Umsetzung auf die Bahn.
Mehr als vier Top-Ten-Klassierungen sind dem Schweizer Team an einer WM noch nie gelungen – letztmals schafften 1991 in Tokio vier Athletinnen und Athleten den Sprung unter die ersten 10. Zudem wurde in Peking nicht weniger als siebenmal eine Top-13-Platzierung erreicht. Die Breite ist also vorhanden und zeigt, welche Fortschritte die Schweizer Leichtathletik erzielt hat – der Heim-EM im vergangenen Jahr in Zürich sei Dank.
«Ich bin grundsätzlich sehr zufrieden mit diesem Team, obwohl wir meine drei prognostizierten Top-8-Platzierungen nicht erreicht haben», sagte Haas. Das Ziel sei bewusst hoch gesteckt worden. Swiss Athletics darf mit grossen Erwartungen der Saison 2016 mit Europameisterschaften (in Amsterdam) und Olympischen Spielen entgegenblicken. Die Perspektiven sind vielversprechend. (ram/si)