London 2012. Ueli Maurer, damals Verteidigungs- und Sportminister, ist aufgebracht, ja zornig. Die helvetischen Schützen haben auf der ganzen Linie versagt. Das tut dem bodenständigen Eidgenossen, auch Chef aller im Umgang mit dem Schiessgewehr versierten Soldatinnen und Soldaten, in der Seele weh.
Am Rande eines Medientermins macht er im Gespräch seinem Zorn Luft. Der Chronist formt aus der bundesrätlichen Philippika (Zorn- oder Brandrede) eine Story. Im Rückblick erkennen wir, warum es einer Schützin vergönnt ist, hier in Paris die erste Medaille zu feiern. Dafür müssen wir einen Blick zurückwerfen an die Olympischen Spiele 2012 und das «Stumpengate». So war das damals:
Eine erfreuliche Erkenntnis aus den Olympischen Spielen 2012: Auch Bundesräte können im Sport eine Polemik befeuern. Unser Sportminister Ueli Maurer war in London erfrischend offen.
Sport- und Verteidigungsminister Ueli Maurer hatte gestern um 10.00 Uhr in der Lounge des House of Switzerland zum Mediengespräch geladen. Na ja, ein Pflicht-Termin. Ich erwarte wenig Kurzweil. Um es ein wenig boshaft zu formulieren: Bundesräte eignen sich im Sport mit ihren staatsmännisch klugen, besonnenen und wohlausgewogenen Aussagen nicht zum Befeuern von Polemik. Noch nie hat ein Bundesrat zu sportlichen Leistungen Klartext geredet. Nicht einmal Adolf Ogi.
Aber ich bin doch ins House of Switzerland gegangen. Schliesslich gehört sich das so, wenn der Sportminister einlädt. Und ich habe es nicht bereut. Polemik! Endlich Polemik!
Nur wenige Chronistinnen und Chronisten sind der Einladung gefolgt. Der olympische Nachrichtenzug ist halt um diese Zeit bereits zur Frontberichterstattung auf die verschiedensten Wettkampfplätze ausgerückt. So bleibt viel Zeit für ein lockeres Gespräch.
Ueli Maurer ist gut gelaunt und da ich ein Leinenhemd mit Edelweissmuster trage, vermutet er vaterländische Gesinnung. Der olympische Geist tut ihm gut. Im persönlichen Gespräch strahlt er eine geradezu unpolitische Begeisterungsfähigkeit und Coolness aus. Mit einer für Politiker erstaunlichen Fähigkeit zu leiser Selbstironie und Humor.
Die Frage, die mich als olympischer Sportberichterstatter umtreibt: Muss es dem Verteidigungs- und Sportminister ob der Leistungen unserer olympischen Schützen, die selbst von der noblen NZZ als «peinlich» bezeichnet worden sind, nicht angst und bange werden?
Ich erwarte eine staatsmännische Antwort. Ungefähr in dem Sinne, dass er natürlich zu wenig nahe dran gewesen sei, um ein abschliessendes Urteil abgeben zu können. Dass er beeindruckt von der Professionalität der Athleten sei. Dass er zuversichtlich sei, dass die entsprechenden Trainer und Coaches in einer gründlichen Analyse die richtigen Schlüsse ziehen würden und er nicht mit einem Urteil dieser Analyse vorgreifen wolle.
Aber da habe ich mich getäuscht. Ueli Maurer scheint geradezu auf eine solche Frage gewartet zu haben, schaut seinen Kommunikations-General Peter Minder an und fragt: «Darf ich, Peter?» Der ehemalige TV-Mann und Spitzensportler (Moderner Fünfkampf) nickt. «Ja, ja, darüber haben wir ja auch schon gesprochen.»
Und so öffnet der Verteidigungs- und Sportminister sein Herz und es folgt die wohl pointierteste bundesrätliche Kritik olympischer Leistungen seit den ersten Spielen 1896 in Athen.
Ja, sagt Ueli Maurer, er mache sich Sorgen. Es handle sich da ja um einen grossen und finanziell starken Verband. Er habe hier in London auch bei den Schützen vorbeigeschaut. Aber er habe keinen guten Eindruck gehabt. Über das Treiben unserer olympischen Schützen sagt er: «Es fehlten nur noch die Rössli-Stumpen.» Es sei gewesen wie bei einem Schützenfest. «Die Schützen waren mental nicht auf diese grosse Herausforderung vorbereitet. Wenn es im Kopf nicht stimmt, dann geht es nicht.»
Olympia-Delegationschef Gian Gilli ist auch da. Ich frage ihn später, was er von der harten bundesrätlichen Kritik an seinen bewaffneten olympischen Helden halte. Er zieht ein bisschen den Kopf ein und betont, man könne natürlich nicht alle in den gleichen Topf werfen. Dann denkt er kurz nach und sagt: «Aber grundsätzlich hat Ueli Maurer nicht ganz unrecht.»
Ueli Maurers Zorn hat Konsequenzen, wird zum «Stumpen-Gate» und erschüttert den Verband der Schützen in den Grundfesten. Die Schiesspulver-Funktionäre sind empört – und müssen handeln. Die ganze Leistungsport-Abteilung wird umgekrempelt, auch personell neu aufgestellt und den Anforderungen der Zeit angepasst. Der bundesrätliche Zorn trägt reiche, goldene und soeben auch bronzene Früchte.
Es sind auch Ueli Maurers Medaillen. Er ist der Vater eines neuen Zeitalters im helvetischen Schiesssport. Ohne seinen Zorn von London, ohne «Stumpen-Gate» gäbe es diese Edelmetalle seit 2016 nicht.
Daraus ist ersichtlich, welchen Schaden die Heerscharen gut besoldeter Kommunikations-Soldatinnen und -Soldaten in der Politik anrichten können, wenn sie Bundesrätinnen und Bundesräte davon abhalten, das Herz auf der Zunge zu tragen.
Ueli Maurer sollte von Swiss Olympic eigentlich als «Ehren-Kommunikationsgeneral» engagiert werden. Um deutsch und deutlich zu sagen, was Sache ist. Oder wie wäre es alle Monate einmal im Anschluss ans «Sportpanorama» unseres öffentlich-rechtlichen Fernsehens mit so etwas wie einem «Wort zum Sport»? Ein griffiger Titel für dieses Sendegefäss lässt sich schon finden. Der Vorname unseres pensionierten Sportministers lädt seit Jeremias Gotthelf («Ueli der Knecht», «Ueli der Pächter») förmlich zu Wortspielen ein. Es darf aber nicht despektierlich tönen. «Sport-Ueli» geht nicht. «Vollgas-Ueli» wegen des VCS auch nicht. Vielleicht sollten wir es eher mit «Uelis Direktabnahme» versuchen.
Die Sache ist einen Versuch wert. Ueli Maurer könnte auch im Ruhestand noch viel bewegen. Etwa mit einer grad aktuellen Aussage («Ich denke, YB sollte die Entlassung von Patrick Rahmen in Erwägung ziehen.»).
Die Bedenken, so etwas gezieme sich für einen Alt-Bundesrat nicht und ein ehemaliger Landesvater könne doch nicht die Klub-präsidenten und Manager, Trainer und Spieler mit öffentlichen Äusserungen gegen sich aufbringen, sollten wir ignorieren.
Was sind denn schon ein paar zornige Präsidenten, Manager, Trainer, Spieler und Bundesratskolleginnen und -kollegen gegen mehrere Millionen Schweizerinnen und Schweizer, die sich köstlich amüsieren?
Und ja. Ich mags den Schützen gönnen.
Aber der Ueli Maurer hat mit dem Erfolg etwa soviel zu tun wie die SVP mit Moral und Lösungen. Nämmli nüd.