Zum Einstieg eine Gebrauchsanleitung: Wer gleich zur Sache kommen möchte, bitte mit Lesen nach der Hälfte der Story beginnen.
Mathias Flückiger trägt beim Medien-Termin eine Schutzmaske. Erinnerungen an die schwierigste Zeit in der Geschichte des modernen Sportes werden wach. Steigen aus dem Unterbewusstsein auf. Nichts hat auch den Planeten Olympia so stark erschüttert wie die Pandemie. Die Sommerspiele von 2020 in Tokyo müssen um ein Jahr verschoben werden. Das Winterspektakel 2022 in Peking geht hermetisch abgeriegelt wie in einer Raumstation und praktisch unter Ausschluss des Publikums über die Bühne. Die Erinnerungen an Peking suchen den Chronisten immer noch ab und an im Schlaf heim.
Seither sind erst zwei Jahre vergangen. In ewiger Erinnerung bleibt aus dieser Zeit: Alle – Athletende, Volontierende, Helfende, Chronistende – müssen zu jeder Zeit und fast überall eine Schutzmaske tragen. Die Schutzmaske ist das Symbol dieser düsteren Zeit. Und jetzt trägt da in Paris wieder ein berühmter olympischer Athlet, ein Kandidat für eine Mountainbike-Medaille, eine Schutzmaske.
Ist Corona in Paris zurück? Die offizielle Erklärung von Delegationsleiter Ralph Stöckli klingt erst einmal beruhigend: «Nein, es ist eine ganz persönliche Vorsichts- und Schutzmassnahme des Athleten.» Mathias Flückiger trägt eine Schutzmaske. Sein Rivale Nino Schurter beim gleichen Termin keine. Jeder so, wie er will.
Corona 2024 in Paris: Die australischen Wasserballerinnen haben kurz vor Start der Spiele in Paris mit einer Ausbreitung des Coronavirus zu kämpfen. Die gesamte Delegation ist getestet worden und das Australische Olympische Komitee bestätigt fünf Fälle. Eine Infektion kann alle Anstrengungen der letzten vier Jahre zunichtemachen.
Ralph Stöckli räumt ein, dass die olympische Welt durch die Pandemie eine andere geworden sei. Das sei beispielsweise hier im Alltag des Olympischen Dorfes ersichtlich: «Masken und Desinfektionsmittel hat es bei den Spielen vor der Pandemie kaum gegeben oder man musste sie suchen und sie sind praktisch nur von asiatischen Delegationen benützt worden. Jetzt sind Schutzmasken und Desinfektionsmittel überall und leicht zugänglich.»
Ralph Stöckli hat die «gute alte olympische Zeit» vor der Pandemie an vorderster Front erlebt. Als Athlet (Curling-Bronze Vancouver 2010) und seit Rio 2016 leitet er als umsichtiger «Olympia-General» die Schweizer Delegation bei Sommer- und Winterspielen. «Wenn sich ein Athlet damals unwohl fühlte, dann ist das vor der Pandemie – beispielsweise 2016 in Rio – auf die besonderen Umstände vor Ort, auf das Essen oder durch den Wechsel aus der Hitze in klimatisierte Räume zurückgeführt worden.»
An eine Bedrohung durch ein Virus, das Karrieren beenden, das Leben bedrohen und das ganze öffentliche Leben lahmlegen kann, dachte niemand. Konnte sich niemand vorstellen. Die langen Schatten der Pandemie sind also noch nicht ganz verschwunden. Das Thema mag in der Öffentlichkeit nicht mehr dominant präsent sein und ist weitgehend verdrängt worden. Aber es hat sich tief in die DNA auch der Sportwelt eingebrannt.
Es gibt, unter der Oberfläche, immer noch ein leises Unbehagen. Könnte sogar eine Maskenpflicht wieder ein Thema werden? Ralph Stöckli verneint. Es gebe in Paris keine entsprechenden Vorschriften. Weder von oben – vom Organisator – noch von seiner Seite. «Wir empfehlen unseren Athletinnen und Athleten Hygienemassnahmen. Dazu gehört, sich mit einer Maske zu schützen, wenn sich viele Leute in einem engen Raum aufhalten, wie beispielsweise bei einem Medientermin.»
Dem Team ist zum Thema ein Informationsblatt abgegeben worden. «Aber eine Pflicht zum Maskentragen gibt es nicht. Auch nicht im Olympischen Dorf.» Die Geschichte lehrt uns, dass es nach einer Krise wilder, zügelloser und bunter weitergeht, als es vorher war. Es interessiert niemanden, dass Schutzmasken und Desinfektionsmittel im Olympischen Dorf besser zugänglich sind als je zuvor. Was ja immerhin eine Neuigkeit wäre.
Data Viz: condoms at the Olympic Games through the years. pic.twitter.com/B15osLEB8T
— Braden Keith (@Braden_Keith) July 18, 2024
Dafür poppt ein anderes Thema wieder auf. Mit der gleichen Verlässlichkeit wie die Geschichte der Auferstehung an Ostern: Sex bzw. Kondome im Olympischen Dorf. Das war früher kein Thema. Olympische Spiele sind eben auch Sensoren des Zeitgeistes. Das erste olympische Dorf ist 1932 in Los Angeles eingerichtet worden. Züchtig. So, wie es sich im bigotten Amerika gehörte. Nur für Männer. Die 1330 Athleten logieren im Vorwort Baldwin Hills auf einem 130-Hektaren-Gelände in 550 Bungalows. Es gibt ein Spital, eine Post, eine Bibliothek und 40 Beizen. Frauen sind nicht zugelassen. Die 125 Athletinnen logieren im Luxushotel Chapman Park am Whilshire Boulevard Nummer 3401. Ob in der Hotelküche nur Köchinnen arbeiten durften, lässt sich nicht mehr feststellen.
Züchtige Nostalgie. In Paris ergötzen sich im Jahre des Herrn 2024 sogar hochseriöse, eigentlich politische Medien wie der «Spiegel» am Thema olympische Wollust. Das «Sturmgeschütz der Demokratie» lässt seine Leserinnen und Leser wissen, dass in Paris im olympischen Dorf 200'000 Präservative für Männer und 20'000 für Frauen bereitliegen. Dazu erstmals in der olympischen Geschichte 10'000 Dental Dams. Es gebe sogar eine Statistik, sozusagen einen Medaillenspiegel der Wollust. Platz 1: Rio 2016 mit 450'000 Kondomen. Ein Rekord für die Ewigkeit.
Wie wild es in Paris, der Stadt des Lichts und der Liebe, zu- und hergeht, wissen wir nicht. Die Betten, weil aus Pappe und nachhaltigen Materialien gebaut, sind eher schmal und wacklig, scheinen eher ungeeignet für wollüstige Tätigkeiten und werden als «Anti-Sex-Betten» verspottet. Die Organisatoren sahen sich angesichts der Diskussionen sogar genötigt, auf den Spitznamen zu reagieren. Man habe die Materialien nur wegen ihrer Umweltfreundlichkeit ausgewählt, und nicht, um die Sportler und Sportlerinnen vom Sex abzuhalten, teilten die Organisatoren nun mit.
Die Geschichte lehrt uns: Nach einer Krise geht es immer wilder und zügelloser weiter als zuvor. Das mag tröstlich oder beunruhigend sein. Und wieder einmal wird eine mehr als hundertjährige Weisheit bestätigt. Seit «Pearl Tabacco» 1871 auf Zigarettenschachteln erstmals leicht bekleidete Frauen abgebildet hat, gilt: Sex sells.
Jedenfalls besser als Schutzmasken und Desinfektionsmittel.
Jetzt habe ich mich schon auf einen saftigen Bericht ĂĽber das wollĂĽstige Treiben zĂĽgelloser Olympioniken gefreut
und dann waren es bloss safer sex tool Statistiken
das ist ja wie bei Ben
Der Titel ist somit einerseits irrefĂĽhrend, weil es eigentlich eher um die Pandemie geht, aber dahingehend richtig, weil sex eben sells.
Gruss
Chorche, mässig enttäuscht