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Weshalb es Fussballprofis so wild treiben

Stürmer Paul Gascoigne in frühen Jahren – auf dem Platz nicht immer nüchtern.
Stürmer Paul Gascoigne in frühen Jahren – auf dem Platz nicht immer nüchtern.Bild: Getty Images Europe
Zwischen Genie und Wahnsinn

Weshalb es Fussballprofis so wild treiben

Raserei, Alkohol, Drogen. Jeder Fünfte trinkt, jeder Vierte ist depressiv – auf und neben dem Fussballrasen droht der Absturz.
23.05.2014, 07:1023.05.2014, 09:00
Ein Artikel von Aargauer Zeitung
Aargauer Zeitung
Daniel Fuchs / Aargauer Zeitung
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Noch steht der Maserati in einer Garage der Solothurner Kantonspolizei. Bis letzten Sommer gehörte er dem argentinischen Fussballprofi Raul Bobadilla, der sich heute vor Gericht in Dornach SO wegen Raserei verantworten muss.

Es war ein Juliabend letzten Jahres, an dem der 26-jährige Stürmer des FC Basel in seinem Boliden mit 111 statt der erlaubten 50 Kilometer pro Stunde in seinem Wohnort Seewen SO erwischt wurde. Den Maserati musste er abgeben. Ob Bobadilla die Karosse zurückbekommt, entscheiden die Richter. Möglich, dass ein Verkauf des Luxusgefährts die Staatskasse aufbessert. In Deutschland sorgte er zuvor mit einer Fahrt für Schlagzeilen, bei der er mit 1,1 Promille im Blut gemessen worden war. 

Bobadilla ist Wiederholungstäter. Ihm droht deshalb eine unbedingte Strafe. Das Höchstmass liegt bei vier Jahren. Während seiner Zeit in Basel lieferte Bobadilla immer wieder Gesprächsstoff: auf dem Platz mit roten Karten und Spielsperren, neben dem Platz mit Disco- und Casinobesuchen. 

Der Fall wirft ein Licht auf das Leben der Fussballprofis, immer haarscharf am Abgrund. Gestern machte der ehemalige holländische Nationalspieler Wim Kieft mit seiner veröffentlichten Biografie seine jahrelange Alkohol- und Kokainsucht bekannt.

2002 soll Gascoigne vor und während eines Spiels so viel Wein und Brandy getrunken haben, dass er am nächsten Tag nichts mehr über das Spiel wusste. Auch nicht, dass er als «man of the match» ausgezeichnet worden war.

Erste Studienergebnisse

Bobadilla soll sich bei seinem neuen Verein in Augsburg gefangen haben. Auch seinem Idol und Landsmann Diego Armando Maradona scheint es nach Jahren der Entzüge und Kuren besser zu gehen. Keiner nährte die Klischees eines überforderten Fussballstars mehr: schnelles Geld, gekoppelt mit einem rasenden sozialen Aufstieg. Teure Karossen, schöne Frauen, Alkohol, Drogen. Als ob sie damit etwas zu kompensieren hätten.

Depressiv: «Und dann landete ich im Alkohol»
Chris Jackson ist 43 Jahre alt, 72-facher Nationalspieler Neuseelands, schoss für sein Land ein Dutzend Tore und stand zehn Mal als Captain auf dem Platz. Seit er 15 ist, leidet er an einer Depression. Niemand wusste davon. Jackson ertränkte sie in Alkohol, nahm Drogen, was er auch vor internationalen Spielen tat. «Danach versuchte ich, Spieler wie Ronaldinho zu decken», erinnert er sich. Fussballspielen war für Jackson eine Qual: Er sehnte stets das Ende des Spiels herbei. Die Unterstützung von Kollegen, Coachs und Club-Verantwortlichen fehlte. Herbe Enttäuschungen folgten. Schnöde servierten ihn die Verbandsbosse 2003 ab. Heute spielt Jackson in einer unterklassigen australischen Liga und putzt nebenher Treppenhäuser in einer Universität. Vom Ruhm eines Nationalspielers ist nichts geblieben: Jackson lebt von einem Einkommen, das wenig höher ist als der Mindestlohn. (dfu)

Dass es sich nicht bloss um Klischees handelt, beweist eine im April veröffentlichte Studie der internationalen Fussballer-Gewerkschaft FIFPro. Von 180 in englischsprachigen Ligen sowie in Holland befragten aktiven Profis gaben 19 Prozent an, ein Alkoholproblem zu haben. Von den 121 ehemaligen Profis waren es sogar 32 Prozent. 7 Prozent der Aktiven gaben an, regelmässig zu rauchen, bei den Ehemaligen waren es 12.

Solche Zahlen räumen auf mit geschönten Vorstellungen eines gesunden Lebenswandels von Fussballprofis. Sie knüpfen nicht nur bei tragischen Figuren wie Maradona an, sondern erinnern an die (ehemals) wandelnden Alkoholleichen Paul Gascoigne, George Best oder Garrincha.

Randvoll auf dem Rasen

Garrincha war bei den WM-Titeln 1958 und 1962 neben Pelé der brasilianische Stürmerstar. Bereits mit 10 Jahren soll er seine Schmerzen – Garrincha litt unter zwei ungleich langen Beinen – im Alkohol ertränkt haben. Ein brasilianischer Funktionär sagte, dass man sich zur Spielvorbereitung damit begnügt hatte, Garrincha über die Farbe des gegnerischen Trikots aufzuklären. Garrincha starb 1983 in bitterer Armut 49-jährig an eine Leberzirrhose.

Weitere Beispiele finden sich rasch: Der alkoholabhängige Paul «Gazza» Gascoigne wurde zur tragischen Legende. Gegen Ende seiner Karriere war er regelmässig randvoll gewesen. Und das sogar auf dem Rasen. 2002 soll er vor und während eines Spiels seines damaligen Vereins Everton gegen Sunderland so viel Wein und Brandy getrunken haben, dass er am nächsten Tag nichts mehr über das Spiel wusste. Auch nicht, dass er als «man of the match» ausgezeichnet worden war. Zahlreiche Entzugskuren hat «Gazza» hinter sich. Alkohol und Tabletten haben seinem Körper arg zugesetzt.  

Das Leben der Promis, zu welchen Fussballprofis zweifellos gehören, bietet unendlich mehr Stoff. Ein Zitat des nordirischen Fussballers George Best aber ist bemerkenswert: «Ich habe viel von meinem Geld für Alkohol, Frauen und schnelle Autos ausgegeben. Den Rest habe ich einfach verprasst.» 

Kein bekannter Spieler soll zeitlebens mehr gesoffen haben als Best. Mit 26 hing er seine Profikarriere an den Nagel, mit 59 Jahren starb er. Zuvor musste er eine Lebertransplantation über sich ergehen lassen.  

Bests Zitat spricht Bände

Von George Best zu Robert Enke: 2009 nahm der deutsche Torhüter sich das Leben. Die Diskussion um das Befinden der Fussballprofis erhielt damit eine neue Qualität. Auch Paul Gascoigne war suizidgefährdet: Einst soll er beim Zimmerservice ein Küchenmesser verlangt haben, um sich damit die Pulsadern aufzuschneiden.

Die Verfasser der FIFPro-Studie befragten die Profis auch zu ihrer psychischen Verfassung. 26 Prozent der Aktiven gaben an, an Depressionen oder Angstzuständen zu leiden, bei den Ex-Profis waren es 39 Prozent. 5 Prozent der Aktiven gaben an, ein Burnout erlitten zu haben, bei den Ehemaligen waren es 16 Prozent.

Abgestürzt: «Plötzlich bist Du ein Nobody»
Johnny Walker bezeichnet sich selber als positiv denkende Person. Zeitlebens hatte der dreifache Goalie der US-amerikanischen Nationalelf keine psychischen Probleme. Mit dem Verlauf seiner Karriere konnte der
39-Jährige zufrieden sein. Doch dann zwangen ihn Rückenprobleme 2006 zum Rücktritt. Der Abgang war für Walker ein Schock: «Ein Tag stehst du vor 80'000 Zuschauern, spielst für dein Nationalteam und gibst Interviews. Am anderen Tag spricht niemand mehr über dich. Du bist plötzlich ein Nobody.» Walker fiel in ein Loch. Er hatte nichts mehr, auf das er fokussieren musste. Ein Psychiater verschrieb ihm Medikamente. «Sie verwandelten mich in einen Zombie.» Weder von der Liga noch von seinem ehemaligen Club erhielt er Unterstützung. Nach drei Jahren Depression holte Walker sein Universitätsdiplom nach. Heute arbeitet er als Assistenzcoach für ein amerikanisches Damenfussball-Team. (dfu)

Die Studien-Autoren schreiben, dass die Probleme unter den aktiven Fussballern gleichermassen verteilt seien, wie in andern Bevölkerungsgruppen. Fussballprofis litten nicht häufiger an Alkoholproblemen, Depressionen oder psychischen Erkrankungen wie Menschen in anderen Bevölkerungsgruppen.

Anders die Zahlen zu den ehemaligen Profis. Die Autoren schreiben: «Der Wechsel ins Leben danach kann dramatische Auswirkungen haben: Spieler stoppen ihr intensives körperliches Training, verlieren die Tagesstruktur und mit Trainern und Mitspielern ihr soziales Umfeld. Sie sind gefährdet, in dieser Transitionsphase psychische Probleme zu bekommen.»

Machos zeigen keine Schwäche

Die FIFPro-Studie dient erst einer Bestandesaufnahme. Das Wissen über die psychische Gesundheit von Fussballprofis steckt damit in den Kinderschuhen und wird vor allem genährt von Nachrichten über Fussballer, die Probleme haben oder solche bereiten.

Weitere Studien folgen, verspricht Raymond Beaard von der FIFPro. Zuerst in französischsprachigen Fussballligen Frankreichs und Afrikas. Die Schweiz sei nicht dabei.

Weitere Studien sollen zudem mehr Licht auf die Gründe für die psychischen Probleme von Fussballprofis werfen und schliesslich in einem Interventionsplan zuhanden der Verbände und Clubs münden.

Bis dahin bleibt auch der FIFPro nur, zu mutmassen. Beaard spricht von einem nach wie vor grossen Tabuthema im Fussball: «Einen geschwollenen Fuss wegen einer Knöchelverletzung kann man anderen zeigen, eine Depression dagegen bleibt unsichtbar. Weder spreche man in Topvereinen darüber noch zeige man gerne psychische Schwächen», so Beaard.

Schnelle Autos, schöne Frauen, Alkohol und Zigarren – ob Fussballmachos und ihre Probleme der Fussballkultur nur den Spiegel vorhalten? (trs)

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