Eigentlich sollte es den Titelanwärter Tom Lüthi (32) gar nicht geben. Noch nie seit der Einführung der Moto2-WM (2010) hatte ein Absteiger aus dem Königsklasse MotoGP ein Erfolgserlebnis.
Der Abstieg aus dem Töff-Himmel MotoGP ist halt ein Karriere-Knick. Dass es ganz oben, dort wo die echten Kerle fahren, nicht reicht. Selbst der Spanier Tony Elias, 2010 erster Moto2-Weltmeister, scheiterte bei zwei Comeback-Versuchen kläglich. Der Brite Sam Lowes müht sich in der zweiten Moto2-Saison seit einem missglückten MotoGP-Abenteuer ab. Letzte Saison hatte es bloss für den 16. WM-Schlussrang gereicht.
Tom Lüthi ist die grosse Ausnahme. Er hat soeben als Rückkehrer das letzte Rennen (GP Texas) gewonnen und liegt in der Gesamtwertung nur fünf Punkte hinter Lorenzo Baldassarri (22) zurück. Mit diesem Sieg hat er den «Nuller» im zweiten WM-Lauf bereits korrigiert. Er kann immer noch siegen – das ist die wichtigste Erkenntnis aus den ersten drei Rennen. Ein «Nuller» muss also noch nicht das Ende aller Titelambitionen sein. Gewinnt er am Sonntag in Jerez zum zweiten Mal in dieser Saison ist er WM-Leader. Die Aussichten sind gut. Nach dem ersten Trainingstag liegt er dem 4. Platz.
Ein erstaunliches Comeback mit 32 Jahren. Der schnellste Berner sagt: «Rennsport ist Kopfsache und keine Frage des Alters. Wenn die Motivation stimmt, spielt das Alter keine Rolle.» Motivation ist das Schlüsselwort. In Spanien oder Italien kommt ein gescheitertes MotoGP-Abenteuer einem Karriereende gleich. Nicht aber in der Schweiz. Tom Lüthi gehört in unserem Land nach wie vor zu den populärsten Einzelsportlern. Wenn er gewinnt, fragt niemand nach der WM-Klasse. Die Motivation hängt nicht von der WM-Kategorie ab.
Sein erfolgreiches Comeback nach schmählichem Scheitern (letzte Saison kein MotoGP-WM-Punkt) ist noch erstaunlicher als sein Titelgewinn 2005 (125 ccm). Der Emmentaler musste in der Winterpause nicht nur eine herbe Enttäuschung überwinden. Er hat sich sozusagen neu erfunden. Sein Manager und Freund Daniel Epp fasst es in einem Satz zusammen: «Wir haben alles hinterfragt.» Das Training in der Winterpause ist mit mehr Kilometern in Töffsätteln (Cross und Strasse) optimiert worden. Das professionelle Umfeld nun noch breiter abgestützt, die Zusammenarbeit mit einen Mental-Trainer und einem Riding-Coach («Fahrlehrer») intensiver.
Was Tom Lüthi die Rückkehr erleichtert hat: die Moto2-Maschinen sind auf diese Saison mit dem Wechsel von Honda auf Triumph-Motoren hubraumstärker und schneller geworden und technisch (Elektronik!) näher an die MotoGP-Klasse herangerückt. «Die Moto2-WM ist nicht mehr gleich wie vorher. So ist es für mich mehr eine neue Herausforderung als eine Rückkehr.»
Am Anfang aber stand die Verarbeitung der Enttäuschung. «Wichtig war für mich, dass ich letzte Saison mit dem letzten Rennen in Valencia alles hinter mir lassen konnte. Es ist ja letzte Saison mit dem Auseinanderbrechen des Teams auf eine unglaubliche Art und Weise wirklich alles schief gegangen, was schief gehen konnte.» Diese Verarbeitung ist gelungen. Das Selbstvertrauen ist wieder intakt.
Der 17fache GP-Sieger sagt, er denke heute anders über den Rennsport, aber etwas sei gleichgeblieben. «Es geht immer darum, ans Limit zu gehen. Daran hat sich nichts geändert. Aber ich nehme dieses Risiko bewusster in Kauf und ich weiss meistens, warum etwas nicht funktioniert. Damals habe ich einfach probiert und wenn es nicht funktioniert hat, wusste ich manchmal nicht warum. Ich beschäftigte mich intensiver mit dem Rennsport. Es ist beruhigend zu wissen, dass heute alles Menschenmögliche für die Sicherheit der Fahrer getan wird. Wir haben eine Sicherheitskommission und unsere Anliegen werden gehört und ernst genommen.»
Er bestätigt den Eindruck, dass er ruhiger geworden ist. «Es ist schon so, dass früher mehr los was, da ein Termin, dort ein anderer.» Inzwischen ist er auch nach Linden zurückgekehrt, ins Dorf, in dem er aufgewachsen ist. «Das hat praktische Gründe. Von Linden aus sind es kurze Wege zu meinen Trainingsorten. Ich bin ohnehin oft unterwegs und wenig zu Hause. Aber natürlich ist es gut, einen Ort zu haben, wo man daheim ist und sich zurückziehen kann.»
Bei der Rückkehr in die Moto2-WM durfte nichts mehr schief gehen. Hätte er – wie letzte Saison - das falsche Team erwischt, dann wäre seine Karriere auf dem Spiel gestanden. Er hatte das Glück, dass er sein Moto2-Team auswählen konnte. Ein Siegfahrer, der 2016 und 2017 die Moto2-WM auf dem zweiten Platz beendet hat und immense Erfahrung in ein Team einbringt ist nicht oft auf dem Markt. Daran änderte auch die missglückte letzte MotoGP-Saison nichts. «Das Interesse war gross. Ich glaube, es waren insgesamt etwa zehn Offerten.» Das Dynavolt-Intact-Team sei von Anfang an ganz oben auf seiner Liste gestanden. «Ich habe über die Jahre gesehen, wie sich dieses Team entwickelt hat und wie gearbeitet wird.»
Letzte Saison war das falsche Team eine der Ursachen des Scheiterns, jetzt ist das richtige Team einer der wichtigsten Gründe für den Erfolg. Mit Marcel Schrötter (29) hat Tom Lüthi einen schnellen Teamkollegen, der doch kein echter Konkurrent ist: der hochtalentierte, freundliche, aber mental zerbrechliche Deutsche war bisher in den Rennen im Direktvergleich chancenlos.
Aber er ist gut genug, um in der Schlussphase der WM im Falle eines Falles Tom Lüthi den Rücken freizuhalten. Das Traumszenario: ein WM-Titel mit Deutscher Hilfe. Warum nicht?