Jeden Tag ein PCR-Test. Ein kleiner Marsmensch im Schutzanzug hat im Hotel gleich neben der Lobby sein Labor eingerichtet. Alle müssen jeden Tag vor dem Verlassen des Hotels bei ihm vorbei. Ob vor oder nach dem Frühstück ist unerheblich. «Ahh»-Sagen. Wattestäbchen in den Rachen. Unangenehm zwar. Aber es dauert kaum viel länger als eine Minute.
Das Problem: Bei einem positiven Testresultat kommen noch am gleichen Tag die Marsmenschen. Sie stecken den Unglücklichen spätestens bei der Rückkehr ins Hotel in ein Auto und bringen ihn weg. Isolation. Wohin? Wie lange? Unter welchen Bedingungen? Wie kommt man wieder raus und nach Hause?
Kommt dazu: Die Marsmenschen bestimmen, ob das Testresultat positiv oder negativ ist. Könnte es sein, dass ein negativ berichtender Chronist positiv gemacht wird? Das politische System in China ist nicht für toleranten Umgang mit Kritikern bekannt. Paranoia? Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
Schauermärchen werden erzählt. Es ist einfach nicht möglich, verlässlichen Bescheid zu bekommen. Den Test zu umgehen auch nicht. Für die Spiele in Peking akkreditiert sein, heisst: Im System erfasst. Die Marsmenschen sehen im Computer, ob der tägliche Test gemacht ist. Wer ohne Test das Hotel verlässt, wird sogleich vom Wachpersonal höflich, aber bestimmt wieder zurückgeschickt. Weil der mit allen möglichen Daten aufgeladene Akkreditierungs-Ausweis beim Hinausgehen im Kontrollapparat kein «Pieps» ausgelöst hat.
Noch nie war die Überwachung der Berichterstatterinnen und Berichterstatter technisch so perfekt. So perfekt, dass die bei früheren Spielen üblichen handgestrickten Kontrollen – wie Checks bei allen möglichen Eingängen inkl. Taschen öffnen und Computer kurz einschalten – gar nicht mehr notwendig sind. Niemand kann die hermetisch abgeschlossenen Räume der Olympischen Blase unbemerkt betreten oder verlassen. Niemand ein nicht offizielles Verkehrsmittel benützen. Big brother knows everyone and everything.
Nach dem Test weiss ich mehr als einen halben Tag lang nicht, ob die Marsmenschen kommen. Ich weiss nur: Wenn sie heute nicht kommen, ist alles gut. Bis zum nächsten Morgen.
Das Leben auf dem «Planeten Peking» könnte trotz allem bequem, interessant und unbeschwert sein. Natürlich ist es nicht möglich, sich ausserhalb dieses «Olympischen Disneylandes» frei zu bewegen wie während den Sommerspielen von 2008. Keine Ausflüge zur grossen Mauer, in die verbotene Stadt, in den schwarzen Bambusgarten, in die Pekinesengasse, zu den Ming-Gräber oder zu den Zypressen des Konfuzius. Keine Entdeckungstouren durch die lokale Gastronomie. Essen nur im Hotel oder in einem der Medienzentren.
Aber meine Kommunikations-Mittel und die Verbindungen zur Aussenwelt funktionieren tipptopp. Die Hotelunterkunft ist geräumig. Die Busse fahren pünktlich. Es ist möglich, in den Mixed-Zonen mit den Athletinnen und Athleten von Angesicht zu Angesicht und ohne dazwischengeschaltete Apparate zu sprechen. Nirgendwo ein Gedränge. Die Sonne scheint. Aber eben: Jeden Tag diese bange Frage: Kommen die Marsmenschen?
Die meisten Chronistinnen und Chronisten scheint es nicht zu kümmern. Wird schon nichts passieren. Nur nicht paranoid werden. Eine Ansteckung ist doch höchst unwahrscheinlich.
Was wäre das für eine Ironie: Zwei Jahre lang in der freien Welt ungeschoren davongekommen. Und dann ausgerechnet in einer hermetisch abgeriegelten und total überwachten Welt unter Geimpften und täglich Getesteten den Virus einfangen. Come on!
Also gut. Vielleicht ist es ja bloss der Jetlag und vielleicht auch das Alter. In ein paar Tagen löst sich das beklemmende Gefühl auf wie Morgennebel in der Sonne. Der tägliche Test wird zur Routine, wie das Zähneputzen. Die Dramen und Triumphe der Olympischen Heldinnen und Helden beanspruchen Fantasie und Zeit. Die Marsmenschen gehen vergessen.
Aber die Sache mit den Marsianern in einer fremden Stadt in einem fernen Land unter Menschen, deren Sprache ich nicht verstehen und deren Schrift ich nicht lesen kann bedrückt mich schon ein wenig und kommt mir unwirklich vor. Nicht einmal Nordkorea war so verstörend. Nicht einmal Franz Kafka und George Orwell hatten genug Fantasie, um zu erahnen, wie kafkaesk Peking 2022 mit dem orwellschen Überwachungssystem sein wird. Ach, wie haben doch die Jungs von Plüsch einst gesungen:
Un i ha Heimweh nach de Bärge
Nachem Schoggi und em Wii
Nach dä Wälder
Nach dä Seeä u nach em Schnee
Un i bi wiit wäg vo deheimä
I dr Schtadt woni nid wett sii
Verlorä i so vilne Lüüt
Woni nüm mag gsee.
Nach Olympia gehen alle dann nach Hause. Die Einheimischen bleiben natürlich da & können sich der Überwachungstyrannei und dem Socialcreditsystem nicht entziehen.
Und der Westen geschäftet mit diesem Land munter weiter. Zu verstrickt sind die Handlungsketten bereits. Chinas Plan geht bereits (leider) vollends auf.
Einfach nicht hingehen. Auch wenn es für den Sport schade ist.