Ende der 90er-Jahre war es noch nicht ganz so einfach, Serie-A-Spiele zuhause im Fernsehen zu verfolgen. Zumindest mir blieb nur der Gang in die italienischen Sportbars, wo über den Beamer das Topspiel der Runde gezeigt wurde. Meist waren das natürlich Spiele mit Beteiligung von Juventus, Milan oder Inter. Das führte unumgänglich dazu, dass die Fans der anderen Klubs – damals waren noch mehr Partien gleichzeitig als heute – über die Resultate der anderen Spiele informiert werden wollten. So wurde alle paar Minuten der RAI-Teletext konsultiert, um Spielstände und Telegramme abzuchecken.
Um noch etwas Spannung reinzubringen, haben bei der Resultateübersicht alle getippt, wer denn die Torschützen sein könnten. Dann gab es schon mal ein Bier, oder in meinem Fall ein Crodino, zu gewinnen. Nun, das Tippen war auf die Topstürmer ausgerichtet – bei Inter war es schliesslich meist Ronaldo, bei Juventus Alessandro Del Piero und bei Milan Oliver Bierhoff, die trafen. Der sicherste Tipp war aber ein anderer: Dario Hübner. Er war gefühlt für jedes Tor von Brescia und später Piacenza verantwortlich.
Hübner wurde aber nicht nur durch seine überragende Torquote zu meiner persönlichen Ikone, sondern auch durch seinen Spielstil und seine Emotionen. Er war sowas wie der Pippo Inzaghi für Arme. Stets an der Grenze zum Abseits, Tore schoss er von überall und mit jedem Körperteil, die Freude über die Treffer war stets überschwänglich. Weil er eben nicht so elegant daherkam, wirkte es so, als könnte jeder dieser Hübner sein. Selbst bei uns im Dorfklub hatten wir gefühlt bessere Fussballer. Ich kann zudem nicht abstreiten, dass ich seinen Namen, von italienischen Kommentatoren «Ubner» ausgesprochen, einfach toll fand.
Dass Hübner überhaupt in der obersten Liga spielen wird, war lange nicht absehbar. Der gelernte Schmid tingelte, bis er 30 Jahre alt war, nämlich durch die Niederungen der italienischen Ligen. Das machte er über Jahre so erfolgreich, dass er Torschützenkönig der Serie C1 (dritthöchste Liga) und der Serie B (zweithöchste Liga) wurde.
Mit 30 Jahren, in einem Alter, in dem gewisse Fussballer langsam über das Karriereende nachdenken, ermöglichte Brescia Hübner doch noch sein Debüt in der Serie A. Beim Aufsteiger nutzte er seine Chance umgehend. Der Neuzugang traf bei seinem Debüt gegen Inter und in seinem zweiten Serie-A-Spiel gegen Sampdoria erzielte er gleich einen Hattrick. Hübner stieg mit Brescia Ende Saison dennoch ab und im Jahr darauf sofort wieder auf. Konstant war bei Brescia zu dieser Zeit bloss die Torquote des «Bisons».
In der Saison 2000/01, Brescia war soeben wieder aufgestiegen, bekam Hübner zwei kongeniale Partner: im Sturm den damals ebenfalls 33-jährigen Weltstar Roberto Baggio, im Mittelfeld kam das 21-jährige Eigengewächs Andrea Pirlo per Leihe von Inter für ein Jahr zurück in die Heimat. Hübner erzielte in 31 Liga-Spielen 17 Tore, in der Coppa Italia eliminierte er Juventus mit einem Doppelpack fast im Alleingang. Brescia beendete die Saison auf Rang 8 und verpasste die Teilnahme am UEFA-Cup nur knapp.
Trotz seiner starken Saison und insgesamt 85 Toren in 145 Partien wurde Hübner im Sommer 2001 mit 34 Jahren bei Brescia ausgemustert – und durch einen gewissen Luca Toni ersetzt. Statt die Karriere zu beenden, wechselte Hübner zu Aufsteiger Piacenza und entwickelte sich endgültig zur Kultfigur. Gleich in seiner ersten Saison wurde er zusammen mit Juves David Trezeguet (beide 24 Tore) zum bis dahin ältesten Torschützenkönig der Serie-A-Geschichte. Und dies zu einer Zeit, als die Serie A noch die beste Liga der Welt war.
Hübner traf so regelmässig, dass sogar die WM 2002 in Japan und Südkorea zum Thema wurde, zumindest für die Fans und Medien. Doch Italiens Trainer Giovanni Trapattoni winkte ab: «Hübner ist ein grossartiger Spieler, aber zu alt für einen Wettbewerb, bei dem du alle drei Tage ein Spiel hast», so der «Comissario Tecnico». Hätte Trapattoni damals gewusst, dass es für Italien sowieso nur 4 Spiele werden …
Hübner blieb ein Länderspiel ebenso verwehrt wie ein Wechsel zu einem Topklub. Bei Milan hatte er einen Vertrag schon ausgehandelt, und auch bei Inter war er nahe an einem Wechsel, es habe sich jedoch alles in Rauch aufgelöst. Eine passende Metapher für den passionierten Raucher. Es heisst, Hübner habe sich sogar in der Halbzeitpause regelmässig eine Zigarette angezündet.
Sein letztes Spiel in der Serie A machte Hübner kurz vor seinem 37. Geburtstag im April 2004. Für Perugia Calcio gegen Brescia. In seiner Serie-A-Zeit traf Hübner alle 149 Minuten und er hat damit eine bessere Quote als Legenden wie Filippo Inzaghi, Roberto Baggio, Alessandro Del Piero oder Francesco Totti.
Danach zog Hübner dahin weiter, wo er herkam, spielte noch bis 43 in unteren italienischen Ligen und sagte selbst dazu: «Ich rauche, laufe wenig, aber spiele noch immer.» Warum er das so lange tat, war für Hübner eigentlich keine Frage: «Ich liebe es, Fussball zu spielen. Für mich ist es der pure Spass, ein Vergnügen. In Form bleiben und dabei Spass haben, was kann man mehr verlangen?»
2018 widmete der Singer-Songwriter Calcutta auf seinem Album «Evergreen», welches es in Italien auf Rang 1 schaffte, ein Lied mit dem Namen «Hubner». Welch' Ironie, dass mein unbesungener Held eben doch besungen wurde.
Als Trainer versuchte sich Hübner von 2013 bis 2014 nur kurz, heute hat er seine eigene Modekollektion, im Februar erschien zudem seine Biografie «Sie nannten mich Tatanka. Ich, der Arbeiterkönig der Provinzbomber ...»
In nostalgischen Momenten schaue ich teilweise noch heute die Resultate auf dem RAI-Teletext nach. Und noch immer denke ich bei Spielen von Brescia daran, dass bestimmt Dario Hübner die Kiste gemacht hat. Wer denn sonst?
Zu "Hubner" gibt's auch noch dies (mit Hübner als Darsteller):