In der 76. Minute ereignet sich beim Spiel zwischen dem FC St.Gallen und den Berner Young Boys im altehrwürdigen Stadion Espenmoos ein Kuriosum. Als Hakan Yakin von seinem Trainer Martin Andermatt ausgewechselt wird, verabschiedet nicht nur der dichtgedrängte Gästesektor den YB-Spielmacher mit tosendem Applaus. Sondern auch das sonst so fanatische St.Galler Heimpublikum, das nicht den Ruf hat, besonders fair zu sein.
Bei der Ehrerbietung für die gegnerische Offensivkraft schwingt bestimmt auch Anerkennung mit, doch in erster Linie dient sie als Spott und Hohn für die eigene Mannschaft. Denn was gibt es Schlimmeres, als wenn die eigenen Anhänger auf einmal den Gegner beklatschen?
Doch die Espen haben diesen Dolchstoss in den Rücken an diesem Abend definitiv verdient. Hakan Yakin hatte die St.Galler abgeschlachtet, wie es sonst nur Metzgermeister Gämperli mit seinen Kälbern tut. Einzigartig, überlegen und qualitativ hochstehend – mit ein paar St.Galler Würstchen, die nicht mehr wissen, wo oben und unten ist – als Endresultat. Kein Wunder, dass ein komplett verbratener Davide Callà nach dem Schlusspfiff meint: «Nicht einmal in einem Albtraum habe ich mir so etwas vorgestellt.»
St.Gallen steigt an diesem Samstagabend als Tabellenletzter ins Rennen und muss unbedingt gewinnen. Nach 16 gespielten Runden haben die Gastgeber lediglich zwölf Punkte auf dem Konto. Beim vierten Spiel unter Coach Krassimir Balakov soll nun aber alles anders werden.
In der dreiwöchigen Nati-Pause vor dem YB-Spiel sind die Ostschweizer sogar ins warme Zypern gereist, um sich in einem kurzfristig einberufenen Trainingscamp auf die kommenden Aufgaben vorzubereiten und den neuen Trainer kennenzulernen. So weit das offizielle Statement des Vereins. Doch der pomadige Auftritt, den die St.Galler in der Startphase gegen YB abliefern, legt die Vermutung nahe, dass in Zypern nicht trainiert, sondern in der Sonne gebrutzelt wurde.
Es dauert keine halbe Stunde, da hat YB-Captain Hakan Yakin den Feriengästen bereits einen Hattrick eingeschenkt. Das einzig Positive ist zu diesem Zeitpunkt für die komplett überforderten Gastgeber – so wirr es auch klingen mag – das Resultat. Denn die Berner führen nach 28 Minuten «nur» mit 3:1. Es könnte gut und gerne auch schon 4:0 oder 5:0 für die Gäste stehen. Hat Balakov das Trainingslager in Zypern zu seinem Amtsantritt tatsächlich in einen Urlaub verwandelt? Es macht fast den Anschein.
Carlos Varela, Thomas Häberli und Hakan Yakin dominieren das Spielgeschehen nach Belieben und flanieren so locker durch die St.Galler Abwehr wie die Espen in der Woche zuvor über die Strandpromenaden Zyperns. Dass die Ostschweizer ihrerseits zu einem Tor gekommen sind, verdanken sie YB-Keeper Marco Wölfli. In der 27. Minute lässt der YB-Schlussmann die Kugel durch die Hände flutschen wie ein zypriotischer Aalfischer seinen Fang, wenn er zu viel Ouzo getrunken hat.
In der Folge werden die Nerven des Heimpublikums etwas geschont. Der nächste YB-Treffer zum 4:1 fällt erst nach einer Stunde. Als die Berner dann aber zum fünften Mal ins St.Galler Netz treffen, haben viele der bemitleidenswerten 9000 Zuschauern genug: In Scharen verlassen sie das Stadion und widmen sich schöneren Sachen, etwa dem St.Galler Dezember-Nebel.
Hakan Yakins (Tor-)Hunger hingegen ist auch nach drei Treffern und zwei Assists nicht gestillt: Die St.Galler Würstchen machen aber auch Appetit auf mehr. Nach einem weiten Wölfli-Abstoss lassen die Hausherren – wie es sich als guter Gastgeber gehört – den Gästen höflich den Vortritt. Hakan Yakin nimmt die Einladung dankend an und donnert den Ball zum vierten Mal an diesem Abend ins gegnerische Netz.
Sechs Skorerpunkte in einem Spiel! Logisch, dass YB-Dompteur Martin Andermatt seinem Goalgetter da einen vorgezogenen Feierabend gönnt. Verständlich auch, dass das St.Galler Publikum (diejenigen, die noch da sind) ebenfalls klatscht. Sei es jetzt aus Sarkasmus oder aus Anerkennung.
Doch die YB-Viertelstunde hat beim Treffer zum 6:2 noch nicht einmal angefangen. Standesgemäss – oder auch nicht – treffen die Berner nach der 75. Minute noch einmal in die Maschen. Carlos «Heb-de-Schlitte» Varela krönt seine hervorragende Leistung in der 89. Minute mit dem Treffer zum 7:2-Schlussresultat. Die Gastgeber sind komplett bedient.
Was für Davide Calla «schlimmer wie ein Albtraum» war, muss Hakan Yakin wie ein Wunschtraum vorgekommen sein. «So etwas habe ich noch nie erlebt und auch noch nie gelesen», meint der Matchwinner nach dem Spiel überglücklich. Im gleichen Atemzug relativiert Yakin seine Leistung aber sogleich wieder: «Es wurde mir auch zu einfach gemacht. Vier Tore sind mir zuletzt bei den Junioren gelungen.»
Und was sagt Krassimir Balakov, der mit St.Gallen seit seinem Antritt in vier Spielen 16 Tore bekommen hat? «Es war desolat. Ich entschuldige mich bei den Fans. Zusammen mit den Spielern haben wir so viel Energie in die letzten drei Wochen gestreckt. Es ist paradox, was wir heute erlebt haben.» Die Leistung seines Teams bewertet er mit vier prägnanten Worten: «Das war gar nix.»
Ins gleiche Rohr bläst auch die Sonntagspresse am Tag danach. «Yakin demontiert St.Gallen», titelt etwa die «Sonntagszeitung». Beim «Blick» ist der Matchwinner ebenfalls im Fokus, «YB-Haki tobte sich aus», so das Boulevard-Blatt. Für die Macher der Zeitung «Sonntag» ist klar: «So spielt ein Absteiger.» Sie sollten recht behalten.
St.Gallen beendet die Saison vor Thun auf dem neunten Rang und muss in die Barrage. Dort treffen die Espen auf Bellinzona und werden mit dem Gesamtskore von 5:2 in die Challenge League geschickt. Das St.Gallen-Abenteuer von Krassimir Balakov endet somit wie es begonnen hat: Mit einer Beurlaubung.