Deutschland reist 1994 als Titelverteidiger und EM-Finalist an die WM in die USA. Zwölf Weltmeister von 1990 sind noch immer dabei, erstmals auch die Stars der ehemaligen DDR wie Matthias Sammer oder Ulf Kirsten sowie die hochgejubelten Talente Mario Basler und Stefan Effenberg.
«Der deutsche Fussball wird über Jahre unschlagbar sein», posaunt Franz Beckenbauer mit Blick auf das fussballerische Potenzial nach der Wiedervereinigung grossspurig in die Welt heraus. «Far away in America», wie die DFB-Elf zusammen mit der Pop-Gruppe Village People vor dem Abflug singt, ist alles andere als der vierte WM-Titel eine Enttäuschung.
Doch das Gefüge in der Mannschaft stimmt nicht und Berti Vogts, der nach «Italia 90» die Nachfolge von Franz Beckenbauer antritt, hat die undankbare Aufgabe, aus altgedienten Silberrücken und vorlauten Jungen eine Einheit zu formen. Ein schier unmögliches Unterfangen.
Schon früh gibt es die ersten Querelen. «Einige Spieler wollten ihre Frauen bei allem dabei haben. Wir haben uns damals mit Kleinigkeiten aufgehalten», erinnert sich Andy Möller später. «Die Spieler schraubten ihre Forderungen immer höher, und Berti Vogts sah einiges zu eng.»
Kein Wunder, tun sich die Deutschen auf dem Spielfeld schwer. Gegen Bolivien reicht im Eröffnungsspiel ein Geniestreich von Jürgen Klinsmann zum 1:0-Zittersieg, gegen Spanien muss man sich mit einem 1:1 zufrieden geben. Im letzten Gruppenspiel wartet schliesslich Südkorea.
Bei fast 50 Grad in der Hitze von Dallas legen Bertis Jungs los wie die Feuerwehr. Dank zwei Treffern von Klinsmann und einem von Karl-Heinz Riedle führen die Deutschen komfortabel mit 3:0, doch die Südkoreaner schlagen nach der Pause zurück. Erst fällt das 1:3, dann sogar der Anschlusstreffer zum 2:3 und noch bleibt mehr als eine halbe Stunde zu spielen. Nervosität macht sich breit, die Fans werden ungeduldig.
Bundestrainer Vogts reagiert, bringt Möller für Captain Lothar Matthäus und Thomas Helmer für den enttäuschenden Stefan Effenberg. Der Regisseur der AC Fiorentina hat keinen guten Tag erwischt und seine Lustlosigkeit offen zur Schau gestellt. Dafür wird er von den eigenen Fans schon während des Spiels gnadenlos ausgepfiffen und mit «Effenberg raus»-Rufen eingedeckt.
Bei seiner Auswechslung platzt «Effe» dann der Kragen. Abseits aller Kameras – bis heute gibt es keine Fotos oder Videos der berühmten Geste – zeigt er den Fans auf der Tribüne den ausgestreckten Mittelfinger. Der Schiedsrichter reagiert nicht, dafür Berti Vogts nach der Partie. Der Bundestrainer hat schon vor dem Turnier zwei Blanko-Tickets für den Rückflug nach Deutschland bereit gelegt. Eines verteilt er nun an Effenberg.
Nach einem nächtlichen Telefonat mit DFB-Präsident Egidius Braun wirft Vogts den Mittelfeldspieler zusammen mit Frau Martina und den Kindern aus dem deutschen WM-Quartier. Es ist der zweite Vorfall dieser Art in der deutschen WM-Geschichte. 1986 in Mexiko wurde Torhüter Uli Stein aussortiert, weil er den damaligen Bundestrainer Franz Beckenbauer als «Suppenkasper» bezeichnet hatte.
Effenberg mimt nach dem Rauswurf das Unschuldslamm und verteidigt sein Verhalten. Er sei «provoziert» worden: «Das muss man schon verstehen.» Ans Nach-Hause-Fliegen denkt er aber nicht. Das schwarze Schaf zieht mit Ehefrau Martina zunächst ins Hotel «Residence» neben dem deutschen Quartier. Plötzlich hat das selbstbewusste Paar Zeit, sich die USA anzuschauen. Die ungeplanten Ferien finanzieren sich die Effenbergs später mit einer exklusiven Enthüllungsstory, die 70'000 Mark einbringen wird.
Vogts hat von solchem Verhalten genug. «Solange ich Bundestrainer bin, spielt er nie wieder», vermeldet der Coach. Und er hält Wort. Effenberg gibt sein Comeback in der Nationalmannschaft – für zwei Spiele – erst, als Vogts nach der missglückten WM 1998 zurücktritt.
Im Nachhinein zeigt Effenberg plötzlich Reue. «Wenn ich gewusst hätte, was passieren würde, hätte ich mir vielleicht auf die Lippen gebissen», schreibt er später in seiner Autobiographie. Für Vogts und sein Team wird die WM 1994 auch ohne Effenberg zum Desaster. Im Viertelfinal scheitert die DFB-Elf überraschend an Aussenseiter Bulgarien. Den vierten WM-Titel holt Deutschland dann 20 Jahre später in Brasilien im Final gegen Argentinien.