Maracanã! Allein das Wort elektrisiert Fussballfans und -spieler auf der ganzen Welt. Pelé erzielt hier sein 1000. Tor. Garrincha, Zico, Socrates, Romario und Ronaldo verzaubern in diesem Fussballtempel die Massen.
Das Maracanã ist von Mythen umrankt wie kein anderes Stadion. Auch Brasiliens «Hiroshima», wie der berühmte Schriftsteller Nelson Rodrigues das 1:2 im entscheidenden Spiel um den Titel bei der WM 1950 gegen Uruguay nannte, trägt den Namen dieser Arena: «Maracanaço».
Das grösste Unglück der brasilianischen Fussballgeschichte ereignet sich bei der ersten WM-Endrunde nach dem Zweiten Weltkrieg. Da der europäische Fussball sehr unter dem Krieg gelitten hat, sind die Teams aus Südamerika an der WM 1950 – allen voran Gastgeber Brasilien – die haushohen Favoriten. Endlich soll der erste Titel her!
In der Vorrunde ringt die Schweiz, eines von sechs Teams vom «Alten Kontinent», der Seleção völlig überraschend ein 2:2 ab. Doch wie Uruguay, das vom Rückzug der Schotten und der Türkei profitiert, stösst der Gastgeber ohne Mühe in die Finalrunde vor; die Schweiz hingegen scheidet aus. Vier Teams spielen in der Folge im Modus «Jeder gegen jeden» den Weltmeister aus.
Im letzten Spiel dieser Finalrunde stehen sich am 16. Juli 1950 die Mannschaften von Brasilien und Uruguay gegenüber. Der Seleção würde ein Unentschieden zum langersehnten ersten WM-Titel reichen. Die Urus brauchen einen Sieg, um nach 1930 zum zweiten Mal Weltmeister zu werden.
Das nigelnagelneue, damals 174'000 Zuschauer fassende Maracanã-Stadion von Rio de Janeiro ist bis zum Bersten gefüllt – schätzungsweise 200'000 fanatische Fans oder noch mehr sollen den Weg in die riesige Arena gefunden haben. Schon um 8 Uhr morgens werden die Tore des Maracanã geöffnet, am Mittag ist bereits kein Platz mehr frei.
Bis zur 66. Minute läuft alles nach Plan für die Gastgeber. Friaça bringt Brasilien kurz nach der Pause in Führung, doch dann verstummt der ohrenbetäubende Lärm im Stadion von einem Moment auf den anderen. Uruguays Dribbelkünstler Juan Schiaffino erzielt den Ausgleich.
Brasilien verliert nach dem Gegentor komplett den Faden und muss zehn Minuten vor Schluss den spielentscheidenen Treffer durch Alcides Ghiggia hinnehmen. Torhüter Moacyr Barbosa lässt sich in der kurzen Ecke erwischen.
Wieder Totenstille. «Nur drei Menschen haben mit einer einzigen Bewegung das Maracanã zum Schweigen gebracht: Frank Sinatra, Papst Johannes Paul II. und ich», sagt Ghiggia später.
Noch Stunden nach dem «Maracanaço», dem Schock von Maracanã, sitzen zehntausende Menschen stumm im Stadion. Die Polizei registriert vier Tote durch Suizid oder Herzinfarkt. Die Niederlage gegen den Erzrivalen ist für Brasilien noch immer das «grösste Trauma der Sportgeschichte». Da kann auch das 1:7 gegen Deutschland von Belo Horizonte, das als «Mineiraço» in die Geschichte eingeht, an der WM 2014 nichts daran ändern.
Die Fans des Gastgebers suchen nach Spielschluss einen Sündenbock und finden ihn in Torhüter Barbosa, dem bis dahin besten Keeper des Turniers. Sein Fehler wird den Schlussmann für den Rest seines Lebens verfolgen.
Im Jahr 2000 sagt er in einem Interview: «Selbst einem Kriminellen wird vergeben, wenn er seine Zeit abgesessen und seine Schuld bezahlt hat. Aber mir wird niemals vergeben. Die Höchststrafe für ein Verbrechen beträgt in Brasilien 30 Jahre. Ich bezahle noch immer für ein Verbrechen, das ich nicht einmal begangen habe.» Kurz nach dem Interview stirbt Barbosa 79-jährig.
Auch Siegtorschütze Alcides Ghiggia weilt nicht mehr unter uns: Er stirbt 2015 auf den Tag genau 65 Jahre nach seinem legendärsten Treffer. Ghiggia war der letzte lebende Weltmeister der 1950er-Mannschaft.
Zwei Jahre lang trägt Brasilien kein Länderspiel mehr zuhause aus. Und bis heute hat die Seleção nie mehr in den bis dahin üblichen weissen Trikots gespielt. Blau und gelb werden stattdessen die Fussballfarben Brasiliens. In diesen holen Pelé, Romario, Ronaldinho und Co. 1958, 1962, 1970, 1994 und 2002 insgesamt fünf Weltmeistertitel.