Mit leicht geneigtem Kopf sitzt Ayrton Senna in seinem völlig zerstörten Williams. Der 34-jährige Brasilianer hat an diesem Sonntag um 14.17 Uhr in der siebten Runde des Grand Prix von Imola bei Tempo 321 die Kontrolle über seinen Boliden verloren und ist in der Tamburello-Kurve mit 214 km/h in spitzem Winkel in die Betonmauer gekracht. Alles bremsen nützt nichts mehr, sein Auto ist unlenkbar, es zerbricht in seine Einzelteile. Eine halbe Milliarde TV-Zuschauer hält den Atem an.
Es dauert lange, bis die Sicherheitskräfte bei Senna sind. Endlich scharen sich Sanitäter, Streckenposten und Ärzte um ihn. Der dreifache Weltmeister bewegt den Kopf, scheint bei Bewusstsein, doch er kriegt von allem um ihn herum nichts mehr mit. Senna hätte den Crash wohl mehr oder weniger unversehrt überlebt, hätte ihn nicht das herrenlose rechte Vorderrad mit voller Wucht am Kopf getroffen.
Auf der Rennstrecke macht sich schnell Verzweiflung breit: Man sieht nur noch Schrott, gespannte Tücher, hektische Rettungsleute. Senna wird schliesslich mit dem Helikopter in ein Spital nach Bologna geflogen. «Ayrton lebte noch und lag in der Intensivstation an der Herz-Lungenmaschine. Wir konnten die fürchterlichen Kopfverletzungen sehen. Es war aussichtslos», erinnert sich Sennas Betreuer Josef Leberer später. Vier Stunden nach dem Unfall erklären ihn die Ärzte für klinisch tot.
Die Welt steht unter Schock. «Als hätte man Jesus live ans Kreuz genagelt», sagt Formel-1-Boss Bernie Ecclestone kurz nach dem Rennen, das nach einem 30-minütigen Unterbruch fortgesetzt und vom aufstrebenden Michael Schumacher gewonnen wird. Doch an diesem Rennwochenende zählen Resultate, Ränge und Punkte längst nichts mehr. «Ich kann mich über den Sieg nicht im Geringsten freuen. Hoffentlich kommt so etwas nie wieder vor», sagt Schumacher bei der Pressekonferenz.
Schon in den Tagen vor Sennas Tod passieren in Imola zwei schwere Unfälle. Im freien Training vom Freitag hebt Rubens Barrichello in seinem Jordan plötzlich ab. Der Brasilianer hat Glück und bricht sich nur Arm und Nase.
Im Qualifying am Samstag stirbt Roland Ratzenberger nach einem Unfall in der Anfahrt zur Tosa-Kurve. An seinem Simtek bricht der linke obere Teil des Frontflügels. Ohne Anpressdruck ist der Wagen des Österreichers nicht mehr steuerbar und schlägt mit 300 km/h in der Abschrankung ein.
Und dann eben der Tod der Formel-1-Ikone. Senna zählt mit seinen drei WM-Titeln, 41 Siegen und 65 Pole-Positionen nicht nur zu den erfolgreichsten Piloten der Geschichte. Er hat auch eine ganz besondere Aura. Seiner Ausstrahlung kann sich kaum einer entziehen. Der Brasilianer ist belesen, musikalisch, weltoffen, er spielt Klavier, sammelt Kunst, zitiert altgriechische Philosophen und liest Shakespeare und Freud.
«Senna war ein unglaublich charismatischer Typ, fahrerisch sensationell, im Regen unglaublich. Einfach eine Ausnahmeerscheinung», beschreibt Niki Lauda bei «auto, motor und sport» den Brasilianer. Für Gerhard Berger ist sein langjähriger Teamkollege bei McLaren «der mit Abstand charismatischste und der beste Rennfahrer» überhaupt. «Keiner war so schlau, so ehrgeizig, so konzentriert.»
Aber Senna, den stets ein leiser Hauch von Melancholie umwehte, ist nicht immer nur der faire Sportsmann. Unvergessen sind auch die harten Duelle, die er sich bei McLaren mit seinem Teamkollegen Alain Prost liefert. Mit voller Absicht fahren sich die beiden Alphatiere ins Auto, nicht selten scheint eine Prügelei am Rande der Piste fast unvermeidlich. «Er hat eine Epoche geprägt, die es nie mehr geben wird», sagt Prost heute. «Senna hat mich gezwungen, über meine Grenzen zu gehen.»
Der plötzliche Tod des dreifachen Formel-1-Weltmeisters versetzt auch sein Heimatland in eine Art Schockstarre. Brasiliens Präsident Itamar Franco ordnet eine dreitägige Staatstrauer an. Denn der Pilot aus São Paulo gilt nicht nur als Garant für brasilianische Erfolge in der prestigeträchtigen Formel 1. Er ist zugleich Held und Hoffnungsträger in einem wirtschaftlich und politisch unstabilen Land. Sozusagen der Pelé des Motorsports.
Die Unfallursache bleibt bis heute ungeklärt. Klar ist, dass die Lenksäule brach. An der Frage, ob dies vor oder nach dem Aufprall geschah, scheiden sich die Geister. Die italienischen Richter machten diesen Bruch für den Crash verantwortlich, Teamkollege Damon Hill sprach von einem Fahrfehler, die Konstrukteure verwiesen auf die fehlerhafte Aerodynamik des Autos.
So auch Adrian Newey, der Designer des Unglückswagens: Zum 20. Jahrestag der Katastrophe gibt er gegenüber der Zeitschrift «auto, motor und sport» zu, er habe diesen Mangel bereits vor dem Rennen festgestellt. Damals gab es aber noch keine Windkanäle und der Zeitdruck verhinderte schliesslich eine Korrektur.
Aber Sennas tödlicher Unfall löst ein sofortiges Umdenken im Motorsport aus. Der Automobilweltverband und wohl auch die Hersteller machen Druck auf sämtliche Serien. Die Rennstrecken werden entschärft, die Crashtests strenger. Es entstehen Auslaufzonen und Betonmauern werden verboten. Für Senna kommen diese Änderungen zu spät. Sein Betreuer weiss schon damals: «Ayrton ist irgendwie auch für die anderen gestorben.»
Seit seinem Unfall ist in 22 Jahren kein einziger Formel-1-Fahrer mehr auf der Rennstrecke ums Leben gekommen. Der letzte Todesfall in der Königsklasse war Jules Bianchi 2015. Er erlag neun Monate, nachdem er einen Abschleppwagen seitlich gerammt hatte, seinen Verletzungen.
Senna, Prost, Lauda, Mansell, Berger, Piquet und Co - 16 x jährlich konnte man sich den Wecker stellen und wurde verlässlich mit wahren Asphalt-Schlachten belohnt, wie man sie sich heute gar nicht mehr vorstellen kann: Plötzlich explodierender Feuerlöschern an Bord (Berger), Mansell platzt i.d. letzten Runde der Reifen und verliert die WM, Lauda versucht verzweifelt seinen McLaren ohne Sprit über die Zielgerade zu schieben und verliert die WM, die ‚Teamkollegen‘ Senna und Prost gehen sich live im Kiesbeet an die Gurgel - Sie alle sind Helden und Senna sowieso.
Erst nach einer Doku konnte ich erahnen, was in Brasilien damals abging und warum Senna eine Art Messias war für die Brasilianer. Er war schon jemand ganz besonderes. In jeder Hinsicht.
Ich habe über 20 Jahre lang fast jedes Rennen gesehen. Ausser die letzten paar, weil langweilig. Ausserdem mag ich den vorprogrammierten Sieger nicht.
Wenn dann irgendwann auch wieder mal ein Auto ohne Stern gewinnen kann, schaue ich vielleicht wieder Rennen.