Der ehemalige amerikanische Finanzminister Lawrence Summers verglich kürzlich in einer Kolumne in der «Financial Times» die Coronakrise mit so bedeutenden Wendepunkten in der Geschichte wie der Ermordung des österreichischen Thronfolgers 1914 in Sarajevo, dem Crash von 1929 oder der Konferenz von München im Jahr 1938:
Auf dem Prüfstand der Geschichte stehen zwei Gesellschaftssysteme. Obwohl sich China immer noch zum Kommunismus bekennt, ist der Gegensatz zwischen freier Marktwirtschaft und Sozialismus wenig zielführend. Es handelt sich um zwei verschiedene Formen von Kapitalismus, Staats- gegen privaten Kapitalismus.
Worum es geht, zeigt Branko Milanovic, einer der bedeutendsten Ökonomen der Gegenwart, in einem Essay in «Foreign Affairs» auf.
China ist ein sehr zentralistisch geführter Staat. Alle Wege führen nach Peking. Die Provinzfürsten erhalten von der Zentrale Vorgaben, die sie einhalten müssen. Wie sie das tun, ist ihre Sache, doch wenn sie diese Ziele verfehlen, gibt es mächtig Ärger.
Die Achillesferse dieses System hat sich beim Ausbruch der Epidemie gezeigt. Die Provinzfürsten wollten keinen Ärger mit Peking und versuchten, das Ganze zu vertuschen. Milanovic stellt fest:
Sobald Peking Bescheid wusste, zeigte sich jedoch die Stärke des chinesischen Systems. Mit drastischen, zentralistischen Massnahmen wurde das Virus eingedämmt. Mit Erfolg: Obwohl es mehr als drei Mal so viele Chinesen wie Amerikaner gibt, sind die Opferzahlen in China sehr viel kleiner als in den USA. Milanovics Fazit:
Wie die Schweiz sind auch die Vereinigten Staaten ein prinzipiell föderalistischer Staat. Von Washington lässt man sich nur Dinge vorschreiben, wenn es nicht anders geht. Umgekehrt delegiert das Weisse Haus die Verantwortung nach Möglichkeit in die Hauptstädte der einzelnen Bundesstaaten.
Dieses System hat sich bei der Bekämpfung des Virus als extrem untauglich erwiesen. Präsident Trump hat nicht nur öffentlich erklärt, er übernehme keine Verantwortung, er hat es auch nicht getan. Stattdessen führte er täglich idiotische Pressekonferenzen durch und überliess die Arbeit weitgehend anderen.
Weil eine zentrale Führung fehlte, mussten sich die einzelnen Gouverneure gegenseitig um Masken, Schutzbekleidung und Beatmungsgeräte prügeln. Das erweist sich als extrem ineffizient: Die USA weisen heute die höchste Anzahl von Opfern weltweit auf. Deshalb sieht Milanovic China tendenziell als Gewinner des Systemwettbewerbs.
Ebenfalls in «Foreign Affairs» beschäftigt sich Kevin Rudd, der ehemaliger Premierminister von Australien, mit den Folgen der Pandemie für die beiden Supermächte. Für ihn gibt es nur Verlierer:
Vor allem der Niedergang der USA ist gemäss Rudd dramatisch:
Das Versagen der beiden Supermächte sollte gemäss Rudd jedoch kein Grund für Schadenfreude sein. Im Gegenteil, er sieht die Gefahr eines neuen Kalten Krieges am Horizont aufsteigen. Die angeschlagenen Staatsoberhäupter werden nun versuchen, mit Chauvinismus ihr Image aufzupolieren.
Erste Anzeichen dafür gibt es bereits. Der US-Präsident weitet den Handelskrieg zunehmend auf die Finanzmärkte aus. So hat er den amerikanischen Pensionskassen untersagt, in den chinesischen Markt zu investieren. Ebenso denkt er laut darüber nach, chinesische Publikumsgesellschaften von den amerikanischen Börsen zu verbannen. Neuerdings will er gar alle Verbindungen zu China kappen.
Gleichzeitig greift Trump Peking immer heftiger an. Er spricht alternativ vom «Wuhan»- oder «China»-Virus, verlangt Reparationszahlungen von Peking oder behauptet gar, die Pandemie sei ein Angriff auf die USA, der «schlimmer sei als Pearl Harbour».
Xi Jinping seinerseits lässt sich ebenfalls nicht lumpen. China rüstet nicht nur militärisch auf, es verteidigt seinen Platz in der Welt zunehmend militanter. Er bezeichnet seine Diplomaten neuerdings als «Wolfskrieger» und fordert sie auf, die Coronakrise mit Fake News und Attacken auf politische Gegner zu Chinas Gunsten umzudeuten.
Die nationalistische Rivalität der beiden Supermächte ist zu einer Gefahr für die Welt geworden. Kevin Rudd befürchtet einen Rückfall in dunkle Zeiten: «Werden die falschen Entscheide gefällt, dann werden die 2020er Jahre eine hirnlose Wiederholung der 1930er Jahre werden. Nur die richtigen Entscheide (eine Kooperation der beiden Supermächte, Anm. d. Verf.) könnten uns vor dem Abgrund retten.»
In China sehe ich vorerst kaum Anzeichen für Änderung. Die Regierung wird zwar auch kritisiert, jedoch ist man sich eher einig, den Weg weiterzugehen. Im Schnitt geht es den Chinesen besser als jemals zuvor. Somit sehen die Chinesen kaum einen Grund für einen Kurswechsel.
China steht für einen kruden Mix aus Planwirtschaft und Hyperkapitalismus ohne individuelle Bürger- oder Freiheitsrechte - und ja: ohne Gewerkschaften und ohne Ansätze eines Sozialstaats, dafür mit enormen Unterschieden zwischen reich und arm (in den USA nicht anders).
Europäer sollten beide Modelle ablehnen. Die soziale Marktwirtschaft zeigt nun ihre Vorzüge.