meist klar
DE | FR
Wirtschaft
Schweiz

Arbeitslosigkeit: Die Schweiz ist nur noch europäisches Mittelmass

ARCHIV - ZU DEN THEMEN AN DER SOMMERSESSION DER EIDGENOESSISCHEN RAETE AM MONTAG, 17. JUNI 2019, STELLEN WIR IHNEN FOLGENDES BILDMATERIAL ZUR VERFUEGUNG - [Symbolic Image, Staged Picture] An unemploye ...
Die Zahlen der Schweizer Arbeitsvermittlungszentren RAV vermitteln nur die halbe Wahrheit.Bild: KEYSTONE

Ein Schweizer Mythos zerfällt: Vom Land ohne Arbeitslosigkeit zum europäischen Mittelmass

Einst galt die Schweiz als Land ohne Arbeitslosigkeit. Inzwischen ist sie nur noch europäisches Mittelmass. Wie konnte es so weit kommen?
24.06.2019, 06:32
Roger Braun / ch media
Mehr «Wirtschaft»

Der frühere Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann sagte es dermassen oft, dass man kaum mehr hinhören konnte: In der Schweiz herrsche beinahe Vollbeschäftigung. Schneider-Ammann verwies auf die Arbeitslosigkeit von knapp über zwei Prozent. Und man dachte: Ja, der Mann hat recht.

Nur ist das nicht die ganze Wahrheit. Denn: Die international vergleichbare Erwerbslosenquote liegt mehr als doppelt so hoch, bei 4.9 Prozent. Hierbei sind nicht nur die Leute vermerkt, die bei den Arbeitsämtern verzeichnet sind, sondern alle Stellensuchenden. So zum Beispiel Sozialhilfebezüger, berufliche Wiedereinsteiger oder all jene, die keine Lust auf den Gang zum Arbeitsamt haben.

Die Quote von 4.9 Prozent klingt weit weniger gut und macht vor allem den Blick frei auf andere Länder. Und dieser ist alarmierend. Vor fünf Jahren noch hatte die Schweiz im Vergleich mit der EU die tiefste Erwerbslosenquote aller 29 Länder. Inzwischen ist sie auf den 13. Rang zurückgefallen.

Vor ihr rangieren Länder, auf die man landläufig eher herunterblickt: Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Polen, Tschechien, Estland, Slowenien, Malta, Deutschland, Österreich Grossbritannien und die Niederlande. Wie konnte es zu diesem Abstieg kommen?

Für die SVP ist der Fall klar: Schuld ist der freie Personenverkehr zwischen der Schweiz und der EU. «Ältere Arbeitnehmer werden in der Schweiz zunehmend entlassen und durch günstige Ausländer ersetzt. Kein Wunder fallen wir im internationalen Vergleich zurück», sagt der Zürcher SVP-Nationalrat Thomas Matter.

Er nutzt die neusten Zahlen des Bundesamts für Statistik, um Stimmung für die SVP-Initiative zur Kündigung der Personenfreizügigkeit zu machen. Und sagt: «Der Konkurrenzdruck durch die Einwanderung ist zu gross geworden, wir müssen bei der Migration eine klare Linie ziehen.»

Folge der Zuwanderung?

So eingängig die Argumentation der SVP klingt, so umstritten ist sie bei Wirtschaftswissenschaftern. Arbeitsökonom Michael Siegenthaler von der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich hat die These der SVP untersucht. Er sagt: «Wir konnten keinen Effekt der Zuwanderung auf die Arbeitslosigkeit feststellen.»

Träfe die These der SVP zu, müsste die Arbeitslosigkeit vor allem in Berufen und Regionen mit grosser Zuwanderung angestiegen sein. Dies ist aber nicht der Fall. «Tendenziell fanden wir dort sogar einen Rückgang der Arbeitslosigkeit», sagt Siegenthaler. Dies zeige, dass die Zuwanderung vor allem dort stattfinde, wo der wirtschaftliche Bedarf gross sei.

«Dank der Personenfreizügigkeit konnten Länder wie Polen, Tschechien, Ungarn oder Rumänien ihre Arbeitslosigkeit exportieren»
Arbeitsmarktökonom George Sheldon

Siegenthaler räumt ein, dass in einzelnen Regionen wie im Tessin oder in Berufen wie dem Gastgewerbe eine gewisse Verdrängung stattfinden könne. «Gesamtwirtschaftlich ist die Einwanderung aber eindeutig eine Ergänzung zu den inländischen Arbeitskräften.»

Ähnlich äussern sich der emeritierte Arbeitsmarktökonom George Sheldon wie auch der Chefökonom der Economiesuisse Rudolf Minsch. Sie weisen auch darauf hin, dass mehr als die Hälfte der europäischen Zuwanderer einen Studienabschluss verfüge. Dagegen seien vor allem schlecht Qualifizierte von Arbeitslosigkeit betroffen.

Bleibt die Frage, weshalb die Schweiz so stark zurückgefallen ist. Für Sheldon liegt die Haupterklärung bei den osteuropäischen Staaten. «Dank der Personenfreizügigkeit konnten Länder wie Polen, Tschechien, Ungarn oder Rumänien ihre Arbeitslosigkeit exportieren», sagt er. Viele Arbeitskräfte hätten das Land verlassen: nach Grossbritannien, Schweden oder Irland, wo sie häufig als Handwerker eine Stelle fanden. Sheldon wertet das positiv. «Der Sinn der Freizügigkeit liegt ja gerade darin, dass Arbeitskräfte aus Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit in Länder umziehen, wo es einen grossen Bedarf gibt.»

Positive Entwicklungen anderswo

Minsch führt die höhere Arbeitslosigkeit der Schweiz vor allem auf das hohe Lohnniveau zurück. In Deutschland zum Beispiel arbeitet jeder fünfte Arbeitnehmer im Tieflohnsektor, in der Schweiz ist es nur jeder zehnte. Zwangsläufig schlecht sei das nicht, sagt der Chefökonom der Economiesuisse.

An der Nachhaltigkeit des deutschen Jobwunders hat er Zweifel. «Es besteht die Gefahr, dass viele schlecht bezahlte Unqualifizierte bei der nächsten Rezession wieder ihren Job verlieren», sagt Minsch.

Siegenthaler sieht auch statistische Gründe für den Rückfall der Schweiz. Als erwerbslos gilt, wer in der repräsentativen Befragung angibt, keinen Job zu haben und einen Job zu suchen. Siegenthaler vermutet, dass heute deutlich mehr stellenlose Personen angeben, einen Job zu suchen.

«Frauen zum Beispiel verlassen den Arbeitsmarkt nicht mehr, wenn sie den Job verlieren», sagt Siegenthaler. Eventuell führe auch der verstärkte Druck der Sozialversicherungen dazu, dass mehr Personen angeben, einen Job zu suchen und damit überhaupt in der Statistik auftauchen.

Insgesamt sieht keiner der drei Ökonomen ein Alarmsignal für die Schweiz. In erster Linie sind es denn auch die Fortschritte anderer Länder, welche die Schweiz schlechter aussehen lassen. Die hiesige Erwerbslosenquote hat sich dagegen kaum bewegt. Dies bemerken die Ökonomen mit Anerkennung, schliesslich nimmt die Schweiz jährlich Tausende von neuen Arbeitskräften auf.

Für Sheldon ist die Entwicklung der Zahl der Erwerbstätigen gar die zentrale Grösse für die Stärke einer Volkswirtschaft. «Sie zeigt, dass die Schweiz weiterhin sehr konkurrenzfähig ist.» (bzbasel.ch)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet um die Zahlung abzuschliessen)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Menschen mit dem perfekten Namen für ihren Job
1 / 29
Menschen mit dem perfekten Namen für ihren Job
Bild: imgur
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Schaff dir KEINEN dieser Praktikanten-Typen an!
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
113 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Kronrod
24.06.2019 06:55registriert März 2015
Nein, die Schweiz ist nicht zurückgefallen. Alle anderen haben aufgeholt. Aber das steht erst am Schluss: “In erster Linie sind es denn auch die Fortschritte anderer Länder, welche die Schweiz schlechter aussehen lassen. Die hiesige Erwerbslosenquote hat sich dagegen kaum bewegt.” Auch wäre es schön, in einem Artikel über eine Kennzahl, die konkrete Kennzahl für andere Länder und Jahre zu nennen oder sogar einen netten Chart abzubilden. Ist das zu viel verlangt?
49640
Melden
Zum Kommentar
avatar
Züzi31
24.06.2019 07:02registriert August 2015
Und wenn fast monatlich Unternehmen mit Millionengewinnen trotzdem hunderte Angestellte rauswerfen können, wundert mich das nicht wirklich.
37553
Melden
Zum Kommentar
avatar
i schwörs
24.06.2019 06:59registriert April 2016
Endlich wird die Statistik so gemacht, dass internationale Vergleiche möglich sind. Dass hierzulande die Zahl der Erwerbslosen in Gebieten mit hoher Zuwanderung eben NICHT höher ist als anderswo, widerlegt die Aussage der SVP welche zu jedem Thema immer nur eine einzige reflexartige Reaktion hat "die anderen sind Schuld". Tut mir leid, aber mit einer derartigen "Politik" lockt man auch nur noch die faulsten Hunde hinter dem Ofen hervor.
323180
Melden
Zum Kommentar
113
«Erster wirklicher Stresstest für die Schuldenbremse»: Ökonom ordnet drohendes Defizit ein
Beim Bund drohen Defizite von bis zu vier Milliarden Franken. Wie schlimm ist das? Und wie hat man in der Vergangenheit darauf reagiert? Ökonom Thomas M. Studer, der zur Geschichte der Bundesfinanzen seine Dissertation verfasst hat, gibt Auskunft.

Jahrelang schrieb der Bund Überschüsse. Jetzt drohen Defizite in Milliardenhöhe. Verglichen mit früher: Wie schlecht steht es um die Bundesfinanzen?
Thomas M. Studer:
Um das vergleichen zu können, stellt man das Defizit ins Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt (BIP). Bei jährlichen strukturellen Defiziten von 2 bis 4 Milliarden Franken, wie sie der Bund erwartet, sind das gemessen am aktuellen BIP rund 0,25 bis 0,5 Prozent. In der Schuldenkrise der 1970er-Jahre waren es bis zu 0,9 Prozent, in den 1990er-Jahren sogar bis 2 Prozent. So schlimm ist es heute noch nicht. Was die Geschichte aber zeigt: Es ist schwierig, aus einer Defizitphase herauszukommen, wenn man mal drin ist.​

Zur Story