Sie gehörte lange zu den einsamen Rufern in der Gesundheitspolitik: Die Solothurner SP-Nationalrätin Bea Heim befasst sich seit Jahren mit den Schwierigkeiten der Medikamentenversorgung in der Schweiz. Reihenweise Interpellationen und Fragen darüber, wie Versorgungsprobleme zu lösen sind und welche Massnahmen der Bundesrat dagegen trifft, sind inzwischen auch von anderen Politikern eingegangen.
Bea Heim geht nun noch einen Schritt weiter, sie hat eine parlamentarische Initiative eingereicht, welche den Bund auffordert die Armeeapotheke zu einer «Volksapotheke» aufzubauen und so aufzustocken, dass die Versorgung nicht nur für Armeeangehörige reicht, sondern für die ganze Bevölkerung. Das würde bedeuten: Bei Knappheit darf die «Volksapotheke» Arzneimittel einführen, handeln und sogar herstellen - allenfalls unter Abweichung vom Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit.
Alle paar Tage aktualisiert das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung die Liste der Versorgungsengpässe von lebenswichtigen Arzneimitteln. Die Anzahl und die Art der Medikamente variiert. In den Jahren 2017 und 2018 wurden insgesamt 177 Versorgungsengpässe bei 81 Wirkstoffen gemeldet. Das mag nach wenig klingen. Doch erstens ist die Rede von einer Zunahme von 46 Prozent zwischen 2017 und 2018. Zweitens gehören wichtige Antibiotika, Krebsmedikamente sowie Kinderimpfstoffe zu den Mitteln, die plötzlich knapp wurden. Drittens hat das zuständige Bundesamt in einem Bericht unlängst festgestellt, dass die Anzahl und die Schwere der Versorgungsstörungen zunehmen.
Der Bund erfasst über die Meldestelle für lebenswichtige Humanarzneimittel die aktuellen Versorgungsengpässe von lebenswichtigen Medikamenten (aktuell sind es 51) und Impfstoffen (aktuell sind es 10). Der Berner Spitalapotheker Enea Martinelli führt hingegen eine Liste aller nicht verfügbaren Medikamente. Seine Liste drogshortage.ch zählt 593 Lieferengpässe, darunter über 100 verschiedene Blutdruckmittel, über 30 Schmerzmittel und 20 Antibiotika. Die Häufung von Medikamenten mit gleicher Wirkung hängt mit der Herstellung der Wirkstoffe zusammen: Meist gibt es nur noch einen oder zwei Hersteller eines wichtigen Bestandteils des Medikaments. Fällt dieser aus, verzögert oder verunmöglicht dies die gesamte Produktion.
Der Bund hat 2015 die Meldepflicht bei Mangel oder Lieferengpässen von lebenswichtigen Medikamente eingeführt. Zudem sind private Firmen (Hersteller und Importeure) verpflichtet, ein Lager für bestimmte Medikamente zu halten. Da sich die Engpässe häuften, hat der Bund die Pflichtlagerhaltung in den vergangenen Jahren deutlich ausgebaut. Zusätzlich zu Antibiotika wurden auch starke Schmerzmittel und Opiate sowie Mittel zur Behandlung der Tuberkulose in die Pflichtlagerhaltung aufgenommen.
Aus Sicht des Bundesrats funktioniert das System der Pflichtlager, wie er auf eine Frage von SVP-Nationalrätin Verena Herzog (TG) geantwortet hat. Die Liste werde ständig angepasst und die Behörden seien im Kontakt mit der Industrie und den Spitälern und könnten so Engpässe frühzeitig erfassen. Über die Pflichtlager konnten fehlende Medikamente trotzdem zur Verfügung gestellt werden: In den vergangenen zwei Jahren mussten sie 29 Mal angezapft werden, um Engpässe zu überbrücken. Das zuständige Bundesamt prüft, ob allenfalls zusätzliche Medikamente auf die Liste lebenswichtiger Medikamente aufgenommen werden sollen. Zudem schiebt der Bund die Verantwortung den Akteuren des Gesundheitssystems zu: Pharmahersteller, Grossisten, Apotheken und Spitäler müssten die Versorgung sicherstellen. «Erst in schweren Mangellagen, denen die erwähnten Akteure nicht mehr selber zu begegnen vermögen, muss der Staat intervenieren», schreibt der Bundesrat in einer Antwort auf einen Vorstoss von FDP-Nationalrat Jacques Bourgeois (FR). Allerdings dringt in der Antwort zwischen den Zeilen durch, dass bereits heute nicht jede Mangellage gemeistert werden kann: «Der Aufbau der Pflichtlager ist im Gang, kommt aber aufgrund von Lieferproblemen nur zögerlich voran, weil dem knappen Markt nicht noch Waren zu Lagerzwecken entnommen werden können.»
Von den Engpässen direkt Betroffene wie der Spitalapotheker Enea Martinelli sind jeden Tag mit Patienten konfrontiert, die unter den Lieferengpässen leiden. Ärzte und Apotheker müssen Kreativität beweisen: Etwa Medikamente anpassen oder neue verabreichen. Das ist nicht nur ein zusätzlicher Aufwand (Stichwort Kosten), es ist auch nicht immer möglich, gerade weil die Wirkungen und Nebenwirkungen sich je nach Wirkstoff stark unterscheiden können.
Laut Bundesrat sind die Ursachen «vielfältig und komplex». Kurzfristig ist meist ein Herstellungsproblem für einen Lieferengpass verantwortlich. Wenn wie vor zwei Jahren die Produktionsstätte eines wichtigen Antibiotikums in China explodiert, fehlt bald nicht nur das Antibiotika, das weltweit keine andere Firma mehr herstellt. Auch ähnlich wirkende Präparate sind schneller vergriffen, weil die Ärzte und Apotheker alle auf dieselben Antibiotika ausweichen. Gleichzeitig sind Verunreinigungen von Medikamenten zunehmend ein Thema: Im Mai wurde das Antirheumatikum Ponstan zurückgerufen, weil es die zulässige Dosis an Blei und Lithium überschritten hatte. Auch bei verunreinigten Medikamenten spielt die Globalisierung eine Rolle: Wichtige Hilfsstoffe für Medikamente werden teilweise nur noch von einem einzigen Hersteller produziert. Läuft etwas schief, ist die Produktionskette für viele Medikamente mit demselben Wirkstoff unterbrochen. Von Lieferengpässen ist deshalb nicht nur die Schweiz betroffen, doch sie hat ein zusätzliches Problem.
In der Schweiz entstehen längerfristige Versorgungslücken oft, weil ein Produkt aus Rentabilitätsgründen eingestellt wird. Weil der Schweizer Markt relativ klein ist, lohnt es sich auch nicht für jeden Hersteller, eine Zulassung zu erlangen. Diese muss für jedes Medikament eingeholt werden, auch wenn es beispielsweise in Europa längst abgegeben wird. Was für die Konsumenten als Besserung verkauft wird, hat also eine Schattenseite: Die Medikamentenpreise in der Schweiz purzeln ständig, dabei waren die hohen Margen bis anhin ein Versorgungsgarant. Unter dem Strich führt aber der weltweite Preisdruck gerade bei Produkten, deren Patent abgelaufen ist, zu einem Verzicht vieler Hersteller, weiter zu produzieren. Dazu gehören gerade auch wichtige Antibiotika oder Impfstoffe. Die Preise können zuweilen die Gestehungskosten nicht mehr decken, kaum eine Firma will deshalb solche Arzneimittel herstellen. Es bleiben also wenige Produzenten in China oder Indien, welche den Weltmarkt weiterhin beliefern. Doch das hat laut Experten direkten Einfluss auf die Qualität: Sie sprechen von «Ramsch», analog etwa zu den Plastikspielzeugen, die in den Billiglohnländern hergestellt werden.
Die Schweiz alleine kann das globale Problem nicht lösen. Einzelne Staaten haben nun damit begonnen, den Export von Arzneimitteln zum Schutz der eigenen Bevölkerung einzuschränken. Eine Verbesserung der aktuellen Situation ist laut SP-Gesundheitspolitikerin Bea Heim möglich. Denn sie ist überzeugt, dass der freie Markt nicht mehr in der Lage sei, Lieferverzögerungen auszugleichen. «Es ist daher Zeit, den Ausbau der Armeeapotheke zur Volksapotheke anzugehen, zum Beispiel mit der Erweiterung der Eigenproduktion», verlangt sie in der eingangs erwähnten Initiative. Da die Kosten zur Überbrückung der Versorgungsengpässe steigen, mache eine Volksapotheke auch diesbezüglich Sinn. «Die durch die Volksapotheke entstehenden Kosten sind jenen gegenüber zu stellen, mit denen bei einer Beeinträchtigung der Volksgesundheit und der Volkswirtschaft aufgrund zunehmendem Mangel an Medikamenten und Impfstoffen zu rechnen wäre.» Allerdings ist Heims Vorschlag nur ein Ansatzpunkt. Die Gewährung von Parallelimporten würde das Problem ebenfalls mindern. Und die Diskussion um die Generikapreise, die im Herbst neu aufgenommen wird, erhält vor diesem Hintergrund ebenfalls neue Aktualität: Macht es Sinn die Preise so stark zu drücken, wenn es letztlich dazu führt, dass sich Hersteller aus dem Markt zurückziehen und so die Versorgungssicherheit gefährden?
Aber schön immer kleinere Margen verlangen....