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Die Erkundung des Bösen – wir foltern, weil wir meinen, das Richtige zu tun

Befehlen blind gehorchen: Das bahnbrechende Milgram-Experiment. 
Befehlen blind gehorchen: Das bahnbrechende Milgram-Experiment. Bild: psmag.com
Neue Studie zum Milgram-Experiment

Die Erkundung des Bösen – wir foltern, weil wir meinen, das Richtige zu tun

10.09.2014, 10:3010.09.2014, 10:47
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Es war eines der berühmtesten Experimente der Wissenschaftsgeschichte: Vor mehr als 50 Jahren liess der Sozialpsychologe Stanley Milgram Testpersonen vermeintlichen Probanden vermeintlich lebensgefährliche Stromstösse verabreichen. Der gnadenlose Eifer der Teilnehmer, so sah es aus, belegte den fatalen Hang, Anweisungen von Autoritäten kritiklos zu folgen – und dabei auch vor Grausamkeiten nicht zurückzuschrecken.

Nun stellen Wissenschaftler die zentrale Schlussfolgerung der legendären Versuchsreihe zur Erkundung des Bösen im Menschen in Frage. Die Probanden hätten nicht aus blindem Befehlsgehorsam heraus grausam gehandelt, argumentieren die Forscher in der neuesten Ausgabe des Fachmagazins «British Journal of Social Psychology». Vielmehr seien sie offenbar überzeugt gewesen, das Richtige zu tun und für eine gute Sache zu handeln. 

Stanley Milgram (1933-1984).
Stanley Milgram (1933-1984).Bild: is.wayne.edu

Das Experiment des Sozialpsychologen Stanley Milgram an der US-Eliteuniversität Yale im Jahr 1961 hatte für Aufsehen und Entsetzen gesorgt. Freiwillige sollten in einem angeblichen Versuch zum Lernverhalten Stromschläge an Testpersonen austeilen, wenn diese Fragen falsch beantworteten. Die Testpersonen waren in Wirklichkeit Schauspieler, die die Stromschläge nur simulierten. 

Gespielter Schmerz: Die Probanden durften vermeintliche Stromschläge austeilen. 
Gespielter Schmerz: Die Probanden durften vermeintliche Stromschläge austeilen. Bild: barrettsonthisday.anorak.co.uk

Tödliche Stromschläge

Angetrieben von einem Versuchsleiter verabreichten die Versuchsteilnehmer tatsächlich immer stärkere Stromschläge, obwohl die Testpersonen um Gnade bettelten und vor Schmerz schrien – bis hin zu tödlichen Stromschlägen von 450 Volt. Das Experiment, das Milgram nicht zuletzt unter dem Eindruck des Prozesses gegen den Holocaust-Organisator Adolf Eichmann entwickelt hatte, gilt seitdem als Paradebeispiel dafür, wie Menschen bereit sind, einer Autorität zu gehorchen, Befehle auszuführen und dabei auch Grausamkeiten zu begehen.  

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Ein Forscherteam nahm das Milgram-Experiment nun noch einmal unter die Lupe. Sie werteten die in den Archiven der Uni Yale gefundenen schriftlichen Rückmeldungen von 659 der Versuchsteilnehmer aus – und waren überrascht, dass viele davon sehr positiv waren. «Man kann sich nur gut fühlen, wenn man Teil eines so wichtigen Experiments war», schrieb ein Teilnehmer. «Ich habe das Gefühl, ein bisschen zur Entwicklung des Menschen und seinem Umgang mit anderen beigetragen zu haben», schrieb ein anderer. 

Das könnte darauf schliessen lassen, dass die Versuchsteilnehmer erleichtert waren zu erfahren, niemandem Schmerz zugefügt zu haben. Die Studienautoren haben aber eine andere Schlussfolgerung: Die Versuchsteilnehmer hatten das Gefühl, eine Pflicht erfüllt und einem höheren Ziel gedient zu haben. 

Das Milgram-Experiment.Video: Youtube/Facemann

Aus eigenem Antrieb

Milgram hatte ihnen vor den Versuchen eingeimpft, dass sie der Wissenschaft dienen würden. Die Versuchsteilnehmer, so die Studie, hätten nicht einfach nur dem Versuchsleiter gehorcht, als sie immer stärkere Stromschläge verabreichten – sondern aus eigenem Antrieb gehandelt, weil sie überzeugt waren, das Richtige zu tun. Die Teilnehmer seien nicht einfach nur «Zombies» gewesen, «die nicht wussten, was sie tun», argumentiert Studien-Ko-Autor Alex Haslam von der australischen Universität Queensland. «Wir glauben, dass hinter jedem tyrannischen Verhalten eine Art der Identifikation steht, und damit eine Entscheidung.» 

Milgram habe seine Versuchsteilnehmer davon überzeugt, dass es «akzeptabel ist, im Dienste der Wissenschaft Dinge zu tun, die sonst unvorstellbar sind». Stephen Reichert von der schottischen Universität St. Andrews erklärte: «Wir argumentieren, dass die Menschen sich dessen bewusst sind, was sie tun, dass sie aber glauben, das Richtige zu tun. Das kommt von einer Identifizierung mit der Sache – und der Akzeptanz, dass die Autorität ein legitimer Vertreter dieser Sache ist.» (dhr/sda/afp)

The Milgram Experiment.Video: Youtube/BigHistoryNL
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    Einst war Reisen ein Vergnügen, das weitgehend der Oberschicht vorbehalten war. Heute ächzen Orte wie Barcelona oder Amsterdam unter den Auswirkungen eines ausser Rand und Band geratenen Massentourismus. Praktisch jeder von uns reist, mal in die Nähe, mal in die Ferne. Das hat – neben allen ökologischen und sonstigen Kollateralschäden – auch sein Gutes: Reisen bildet nämlich, zumindest dann, wenn man nicht alkoholisiert nach Mallorca fliegt, um dort am Ballermann weiterzubechern und schliesslich benebelt wieder heimzukommen.

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