Narkissos, auch Narziss genannt, war nicht zufällig männlich. Das ist zumindest das Ergebnis einer Metaanalyse von amerikanischen Wissenschaftlern, die mehr als 355 psychologische Studien aus drei Jahrzehnten auswerteten.
Der schöne Sohn eines Flussgottes, so erzählt uns die griechische Mythologie, verliebte sich unsterblich in sein eigenes Spiegelbild. In der Psychologie und im alltäglichen Sprachgebrauch steht der von dem unglücklichen Jüngling abgeleitete Begriff für eine auffällige Selbstbewunderung, Selbstverliebtheit und Egozentrik.
Dieser in der Regel nicht als sehr positiv bewertete Cocktail von Eigenschaften findet sich häufiger bei Männern als bei Frauen, haben die Forscher um Professor Emily Grijalva von der University of Buffalo herausgefunden, wie sie im «Psychological Bulletin» berichten. Sie untersuchten die geschlechtsspezifischen Unterschiede in drei Aspekten, die typisch für Narzissmus sind: übersteigertes Anspruchsdenken, Grössenwahn/Exhibitionismus und Führungsanspruch/Autorität.
Beim Anspruchsdenken war der Unterschied zwischen den Geschlechtern am klarsten: Männer neigen offenbar deutlich häufiger als Frauen dazu, andere auszubeuten. Sie fühlen sich auch eher im Recht, wenn sie Privilegien für sich in Anspruch nehmen. Beim Führungsanspruch konnten die Wissenschaftler ebenfalls eine geschlechtsspezifische Differenz feststellen. «Im Vergleich zu Frauen zeigen Männer mehr Durchsetzungsvermögen und Machthunger», sagte Grijalva in einer Pressemitteilung.
Beim Exhibitionismus dagegen gab es keinen Unterschied – was aber nicht heisse, dass Frauen und Männer sich gleich häufig vor anderen entblössen. «Das bedeutet, dass beide Geschlechter gleich eitel und ichbezogen sind», erklärte Grijalva.
Grijalva geht davon aus, dass die jeweilige Geschlechterrolle von klein auf gelernt und durch Lob oder Kritik von Bezugspersonen gefestigt wird. «Insbesondere Frauen werden meist harsch kritisiert, wenn sie aggressiv oder autoritär auftreten. Dadurch geraten sie – im Gegensatz zu Männern – unter Druck, narzisstisches Verhalten nicht auszuleben.»
Dies wiederum erkläre, so Grijalva, auch den eklatanten Frauenmangel in den Chefetagen, der trotz formeller Gleichberechtigung der Geschlechter nach wie vor besteht. (dhr)