Das gesamte menschliche Genom ist komplett entschlüsselt. Endlich, diese Aufgabe wurde schon vor mehr als dreissig Jahren in Angriff genommen. Gleich sechs wissenschaftliche Publikation dazu sind in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins «Science» zu finden, hinzu kommen mehr als zwölf, die anderswo erscheinen.
Doch Moment – irgendwie kommt uns das bekannt vor. Entschlüsselung des menschlichen Genoms – gab es diese Schlagzeilen nicht bereits in der Vergangenheit? Vor über 20 Jahren hiess es doch schon: Entschlüsselt!
Um die Jahrtausendwende konkurrierten zwei Projekte um diesen wissenschaftlichen Erfolg: Die breit abgestützte Forschungskooperation Humangenomprojekt und die US-Firma Celera. Im Februar 2001 publizierten beide gleichzeitig, aber in separaten Zeitschriften, ihre Resultate. Der grösste Teil des menschlichen Genoms war entschlüsselt. Doch es gab noch Lücken. In den folgenden Jahren wurde an diesen gearbeitet, aber selbst in der neusten Version von 2013 fehlten noch acht Prozent.
Die Baupläne des Lebens sind in einfacher Sprache gehalten. Vier Buchstaben genügen: A, T, C und G. Sie stehen für die vier Basen, aus denen die Chromosomen aufgebaut sind. Sämtliche vererbbare Information des Lebens lässt sich als Buchstabenfolge mit diesen vier Buchstaben schreiben.
Die Schwierigkeiten hingen damit zusammen, dass das Erbgut für die Untersuchungen in kleine Stücke von einigen hundert oder tausend Buchstaben geteilt werden muss. Diese werden separat gelesen und müssen danach am Computer wieder zusammengesetzt werden. Ein riesiges Puzzle. Und darin gibt es lange Sequenzen, bei denen sich immer wieder die gleichen Buchstabenabfolgen wiederholen, also quasi identische Puzzleteile. Bei diesen ist das Zusammensetzen so schwierig, dass auch Super-Computer bis heute daran scheitern.
So wichtig Rechenkraft für die Genomforschung ist – in diesem Fall lag die Lösung im Menschen, nicht in der Maschine. Von Auge konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf dem Bildschirm erkennen, welche Sequenz wohin gehörte. Auf diese Weise gelang es, auch die Teile des Genoms zu entziffern, die bislang noch unbekannt gewesen waren.
Rund 200 Millionen Basenpaare sind gegenüber dem bisherigen Referenzgenom dazugekommen. Im vergangenen Jahr erschien der sogenannte Preprint, die noch nicht von unbeteiligten Fachleuten geprüfte Vorabversion der Studie. Gestern wurden die Ergebnisse offiziell publiziert. Dahinter stehen rund 100 Autoren und Autoren um die Genetikerin Karen Miga von der University of California Santa Cruz.
Andrea Superti-Furga, Professor für Genetische Medizin an der Uni Lausanne, war nicht an der Studie beteiligt. Doch er sagt:
Den grössten Fortschritt sieht er aber nicht in der Enthüllung von zuvor noch unbekannten Abschnitten. Sondern darin, dass diesmal ein einzelnes Genom gelesen wurde, statt dass verschiedene zusammengesetzt wurden. Das bisherige Referenzgenom enthielt Stücke von mehreren Menschen. Für die medizinische Forschung ist es aber ein entscheidender Vorteil, wenn stattdessen das genetische Material einer Einzelperson untersucht werden kann.
«Nun ist die Methode da für noch bessere Diagnosen», sagt er. «Wir können damit die genetische Variabilität der Individuen verstehen.» So kann etwa danach gesucht werden, wie sich Menschen mit bestimmten Krankheiten genetisch von gesunden Menschen unterscheiden. Andrea Superti-Furga: «Es wird weitere Fortschritte geben, zum Beispiel bei der Diagnose seltener Krankheiten.»
Direkt aus dem nun vorliegenden kompletten Genom ablesen lassen sich Krankheiten aber keineswegs. Entschlüsselt heisst noch lange nicht, dass das Genom auch verstanden ist. Der Fokus der Forschung liegt auf den Genen, das sind jene Abschnitte des Erbguts, welche Baupläne für Eiweisse enthalten, die dann wiederum gewisse Funktionen im Körper haben. Für viele Eigenschaften ist aber nicht ein einzelnes Gen zuständig. So gibt es nicht «das» Gen für die Augenfarbe, es sind mehrere Gene zusammen verantwortlich.
Das menschliche Erbgut enthält mehr als 20’000 Gene. Sie machen ungefähr zwei bis drei Prozent des Genoms aus. Doch auch die Abschnitte dazwischen dürfen nicht ausser Acht gelassen werden. Früher war zuweilen abwertend von «junk DNA» (deutsch ungefähr: «Abfall-DNA») die Rede. Doch so einfach ist es nicht. So hat ein Team mit Beteiligung von Andrea Superti-Furga sowie Forschenden der Universität Basel im vergangenen Jahr entdeckt, dass die Ursache für schwere Missbildungen der Gliedmassen bei Neugeborenen in einem solchen Abschnitt weit weg von den Genen lag.
Was bringt die nun vorliegende komplette Sequenzierung für das Verständnis des Genoms? Einer der Autoren spricht von einem Rosetta-Stein, in Anlehnung an jenen Stein, der einst die Entschlüsselung der Hieroglyphen ermöglichte.
Das ist etwas hoch gegriffen. Wenn wir das Genom als Buch betrachten, so ist es in einer komplexen Geheimschrift verfasst, für die es keinen einfachen Schlüssel gibt. Aber zumindest ist nun eine Methode da, um das Buch vergleichsweise schnell und kostengünstig komplett auszudrucken. Das hilft, um mit dem Verständnis des Inhalts voranzukommen.
(aargauerzeitung.ch)