Wann spricht man von einer Katastrophe? Oxford Languages definiert den Begriff als «schweres Unglück», als «Naturereignis mit verheerenden Folgen» und als eine «furchtbare, unvorhergesehene, wirtschaftliche Katastrophe».
Während «schweres Unglück» beinahe alle Ereignisse mit schlimmen Folgen beinhaltet, klammert die letzte Definition «furchtbare, unvorhergesehene, wirtschaftliche Katastrophe» deutlich mehr Ereignisse aus. Unter anderem Kriege. Denn diese sind nicht unvorhergesehen, sondern bewusst herbeigeführt.
Doch auch mit dieser engeren Definition wird das Qualifizieren und Quantifizieren von Katastrophen eine ebenso makabere wie subjektive Angelegenheit. Die Liste erhebt deshalb keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
In Bhopal, der Hauptstadt der indischen Provinz Madhya Pradesh im Herzen Indiens, liegt die Chemiefabrik mitten im Elendsviertel. 100'000 Menschen wohnen hier im Umkreis von einem Kilometer in ärmsten Verhältnissen. Einige von ihnen arbeiten in der UCIL (Union Carbide India Limited). Dort wird Carbaryl produziert. Die einen nennen es Pflanzenschutzmittel, die anderen Pestizid. Unter dem Markennamen Sevin wird es in den USA verkauft. In der Schweiz und der EU ist Carbaryl nicht zugelassen. Es tötet unselektiv – also auch nützliche Tiere wie Bienen. Und in der Nacht vom 2. auf den 3. Dezember 1984 tötet es tausende Menschen.
Die Fabrik in Bhopal ist marode, der Verkauf von Sevin rückläufig. Und so wird gespart. An Materialien, an Personal. Als es zum Unglück kommt, steht die Produktionsstätte still, die Lager aber sind voll. Nur Wartungsarbeiten sind im Gang – und führen dazu, dass Wasser in einen Tank mit Methylisocyanat (MIC) geleitet wird. Der Druck steigt so stark, dass die Überdruckventile nachgeben und eine tonnenschwere Wolke mit hochgiftigen Gasen in die Umgebung abgeben. In der Fabrik geht der Alarm los – und wird gleich wieder abgeschaltet. Sonst bleiben die Sirenen stumm. Das System, das zum Schutz der Bevölkerung installiert wurde, war zuvor deaktiviert worden. Während sich die Angestellten des Chemiewerkes entgegen der Windrichtung von der Katastrophe entfernen, werden die umliegenden Anwohner ihrem Schicksal überlassen.
Die Wolke verbreitet sich nun schleichend in der unmittelbaren Gegend. 500'000 Menschen werden den giftigen Gasen ausgesetzt. MIC ist schwerer als Luft, die Konzentration des Gifts nimmt mit der Nähe zum Boden zu. Deshalb trifft es Kinder besonders hart. Das Gift verursacht Verätzungen, lässt die Augen erblinden, führt zu Hautirritationen, dem Gefühl von Verbrennungen in der Lunge, zu Atemnot und Bauchschmerzen. Am nächsten Morgen liegen tausende Menschen tot in ihren Hütten, erstickt oder an einem Kreislaufkollaps gestorben. Wie viele es genau sind, ist nicht bekannt. Schätzungen gehen von 3000 bis 25'000 direkten Opfern der Gaswolke aus. Eine halbe Million Menschen spüren auch Jahre später noch die Auswirkungen. Das Unglück von Bhopal gilt bis heute als die schlimmste Chemiekatastrophe der Menschheitsgeschichte.
Von den ursprünglich geforderten 3 Milliarden Schadenersatz wurden vom verantwortlichen US-Konzern Union Carbide bis heute lediglich 470 Millionen bezahlt.
Persönliches Karrierestreben, ein starkes Hierarchiegefälle und Unkenntnisse über die Schwächen der eigenen Technik führen 1986 in der heutigen Ukraine zu einer bisher unerreichten nuklearen Katastrophe.
Unter der Leitung des ehrgeizigen Anatoli Djatlow wurde im April 1986 ein Test der Notstromversorgung am Block 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl durchgeführt. Djatlow hielt trotz diverser Warnungen an den Tests fest. Während dieser kam es zu verschiedenen Bedienfehlern, Sicherheitsübertretungen und unvorhergesehenen chemischen Reaktionen, welche zu zwei grossen Explosionen führten. Diese zerstörten am Samstag, 26. April 1986 kurz nach Mitternacht das über 1000 Tonnen schwere Reaktordach von Block 4. Enorme Mengen an radioaktivem Material und Staub wurden in die Atmosphäre entlassen.
Die Katastrophe wurde zuerst verschleiert. Schichtleiter Akimow meldete noch Stunden nach der Zerstörung, das Kraftwerk sei intakt. Nicht nur die Landesregierung in Moskau, sondern auch die Bewohner der nahegelegenen Stadt Prypjat tappten im Dunkeln.
Erst am Montagabend, rund zwei Tage nach den Detonationen, nachdem ein AKW in Schweden zu hohe radioaktive Messwerte gemeldet hatte, berichtete die sowjetische Nachrichtenagentur TASS von einem Vorfall bei Tschernobyl.
Die Aufräumarbeiten gestalteten sich infolge der immensen radioaktiven Strahlung und eines Graphitbrandes als extreme Herausforderung. Dabei zum Einsatz kamen sogenannte «Liquidatoren». Das waren grossmehrheitlich eingezogene Soldaten, die für 100 Rubel (damals ca. 100 Dollar) in extrem verstrahlte Gebiete geschickt wurden. Zum Beispiel auf das Dach von Reaktorblock 3. Dort lagen hoch radioaktive Graphitbrocken, welche von der Explosion dorthin geschleudert worden waren. Die Strahlung auf dem Dach war dermassen hoch, dass Räumungsroboter aus Deutschland und Japan nach wenigen Sekunden ihren Geist aufgaben. Also mussten Menschen ran.
Laut Greenpeace-Atomphysiker Heinz Smital ist die Strahlenbelastung von einem Sievert nur zu 10 bis 20 Prozent tödlich. Vier Sievert sind zu 50 Prozent tödlich und sieben Sievert etwa zu 100 Prozent. Da gibt es kaum Überlebenschancen. Die Strahlenbelastung, denen die Liquidatoren auf dem Dach von Block Nr. 3 ausgesetzt waren, wird auf bis zu 15 Sievert geschätzt. Deshalb dauerte ein Einsatz dort bloss 40 Sekunden. In der Zeit mussten die Liquidatoren möglichst viele Graphitteile in den Abgrund schaufeln. Einige Feuerwehrmänner, die als erste den Unglücksort betraten, sollen gar 16 Sievert ausgesetzt worden sein.
Bis zu 800'000 Liquidatoren aus der heutigen Ukraine, aus Russland und aus Belarus wurden im Verlaufe der Jahre eingesetzt. Trotz der enormen Strahlenbelastung sind nur wenige direkte Todesopfer von Tschernobyl bekannt. Es herrscht Geheimhaltung – und ein Chaos bei den Registrierungen. Zahlen veröffentlichte bisher nur die Ukraine. Im April 1998 meldete der damalige Gesundheitsminister Andrei Serdiuk, dass über 12'500 ukrainische Liquidatoren an den Folgen des Einsatzes in Tschernobyl gestorben sind.
Kein einzelner Event, sondern eine Serie in den vergangenen 50 Jahren sorgt dafür, dass das Nigerdelta in dieser traurigen Liste auftaucht. Allein in den 15 Jahren zwischen 1976 und 1991 kommt es dort zu 2976 registrierten Ölverschmutzungen. 1998 sterben über 1000 Menschen, als eine schlecht gewartete Pipeline aufgrund einer brennenden Zigarette explodiert. Bei einem ähnlichen Unfall verunglücken zwei Jahre später über 200 Menschen, darunter viele Schulkinder. Bei Lecks an zwei Pipelines treten 2008 und 2010 hunderte Millionen Liter Öl aus. Die Betreiber Shell und ExxonMobile versuchen, die Vorfälle zu vertuschen, sie kosten zehntausende Fischer und Bauern die Lebensgrundlage.
Es wird geschätzt, dass im Nigerdelta in den vergangenen Jahrzehnten rund zwei Milliarden Liter Rohöl versickerten. Bei 30 Millionen Anwohnern ist die Lebenserwartung deshalb um zehn Jahre zurückgegangen. Die Instandsetzung des Deltas wird im Minimum 30 Jahre dauern und über eine Milliarde Dollar verschlingen.
Davor gewarnt, dass Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) die Ozonkonzentration um die Erde verringern können, hatten Paul Crutzen, Mario Molina und Frank Sherwood Rowland bereits 1974. Doch zuerst wurden die Wissenschaftler nicht ernst genommen. Als 1985 drei britische Forscher nachwiesen, dass sich über dem Südpol tatsächlich ein riesiges Ozonloch aufgetan hatte, war die Panik dafür umso grösser.
Denn das Ozon in der Ozonschicht, in der Stratosphäre in 25 bis 30 Kilometer Höhe, schützt Menschen, Tiere und Pflanzen vor den schädlichen UV-C- und UV-B-Strahlungen der Sonne. UV-B-Strahlung kann Zellen von Lebewesen zerstören und führt beim Menschen zu erhöhtem Hautkrebsrisiko. Doch damit nicht genug. Zu viel UV-Strahlung erhöht das Risiko, am Grauen Star oder an einer Immunschwäche zu erkranken. Ausserdem werden eingespielte Naturkreisläufe aufgebrochen.
Konkrete Zahlen über die Auswirkungen des Ozonlochs existieren nur in Form von Schätzungen. Laut UNO-Wissenschaftler J.C. van der Leun war das Ozonloch in den 90er-Jahren für 270’000 Hautkrebserkrankungen verantwortlich – pro Jahr. Ungefähr fünf Prozent der Fälle enden tödlich. Entsprechend sind in den vergangenen Jahrzehnten weit über hunderttausend Menschen an den Folgen des Ozonlochs gestorben. Dies beinhaltet nur die Hautkrebs-Fälle.
Erfreulicherweise reagierte die Weltgemeinschaft schnell und entschlossen. Die dafür verantwortlichen FCKW, vorhanden in Sprühdosen, Klimaanlagen, Kühlschränken und -truhen, Isoliermaterialien, Kissen und Polstern, wurden bereits 1987, zwei Jahre nach der Entdeckung des todbringenden Lochs, mit dem Montreal-Protokoll verboten. Heute geht man davon aus, dass sich das Ozonloch bis zum Jahr 2066 wieder schliesst. Verzögern könnte dieser Prozess ausgerechnet der Klimawandel.
Wirft man einen Frosch ins heisse Wasser, springt er wieder raus. Wird der Wassertopf hingegen langsam erwärmt, verbleibt er darin, bis er bei lebendigem Leibe gekocht wird. Das grausame Bild passt zum menschlichen Umgang mit dem Klimawandel. Ausser viel Gequake hat sich wenig bewegt.
Und so steigt die Durchschnittstemperatur auf diesem Planeten weiter und erhöht damit die Wahrscheinlichkeit für extremes Wetter. Doch Überschwemmungen in Florida gab es schon immer. Genauso wie todbringende Schauer in China – oder Europa. Deshalb ist der Klimawandel so schwer zu fassen. Deshalb sind Massnahmen dagegen, die sich mitunter auf unsere Lebensqualität auswirken, so schwierig umzusetzen.
Wie beim Ozonloch sind genaue Opferzahlen beim Klimawandel nicht möglich. Wäre es ohne Erwärmung zu den Überschwemmungen in Griechenland im September 2023 gekommen? Oder wären diese einfach weniger stark ausgefallen? Was ist mit dem Jahrhunderthochwasser in Deutschland im Juli 2021, bei dem über 180 Menschen umkamen? Obwohl die Herstellung eines direkten Zusammenhangs mit dem Klimawandel nicht möglich ist, ist eines klar: Er erhöht die Gefahr von Katastrophen dieser Art.
Was hingegen möglich ist: die statistische Zunahme von Wetterextremen zu berechnen – und designierte Opferzahlen zu prognostizieren. Genau das tat eine Studie 2021 mit dem makaberen Titel «Die Mortalitätskosten des Kohlenstoffs».
Das im Fachmagazin «Nature Communications» erschienene Papier diskutiert verschiedene Szenarien. Eine Erderwärmung von 4,1 Grad würde in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts 83 Millionen Hitzetote fordern. Todesfälle durch Stürme und Überschwemmungen sind in dieser Zahl nicht enthalten. Schafft es die Menschheit, die Erderwärmung auf 2,4 Grad zu beschränken, schmilzt diese Zahl um 74 Millionen auf 9 Millionen.
Gleich sechs Klimawandel-Folgen (Überschwemmungen, Dürren, Hitzewellen, tropische Stürme, Waldbrände und der steigende Meeresspiegel) berücksichtigt der erst kürzlich in Davos vorgestellte Report «Folgen des Klimawandels für die globale Gesundheit». Bei einer Erwärmung von 2,4 Grad gehen die Autoren von 14,5 Millionen Todesfällen bis ins Jahr 2050 aus.
Man kann es drehen, wie man will: Der Klimawandel ist die mit Abstand tödlichste menschengemachte Katastrophe. Ein Hoffnungsschimmer bleibt: Die Probleme sind grossmehrheitlich erkannt. Und die Menschheit verfügt bereits heute über die Werkzeuge, das Schlimmste zu verhindern.
Da brannte eine Lagerhalle der damaligen Sandoz nieder. Sie war voller Chamikalien.
Sicher nicht eine der schlimmsten, aber doch katastrophal. Das giftige Löschwasser landete im Rhein und vernichtete die Lebewesen darin bis weit nach Deutschland.