In den 50er-Jahren werden im Nigerdelta in Nigeria enorme Ölvorkommen entdeckt. Wenige Jahre später, 1957, beginnt Royal Dutch Shell als erster Konzern mit der Förderung von Öl im Nigerdelta. Vier Jahre später feiert Nigeria seine Unabhängigkeit. Die politische Lage bleibt trotzdem unsicher. Die Aussicht auf die Reichtümer der enormen Bodenschätze verkompliziert die Lage. Und so entsteht in den späten 60er-Jahren im Nigerdelta ein äusserst blutiger und tragischer Machtkampf.
1967 erklären sich die christlichen Anwohner im Osten des Deltas unter der Führung des Volkes der Igbo für unabhängig. Kurz darauf marschieren nigerianische Truppen in den neu ausgerufenen Staat Biafra ein. Der Krieg dauert drei Jahre. Die Opferzahlen gehen weit auseinander. Sicher ist nur: Vor allem die Zivilbevölkerung leidet. Eine bis drei Millionen Zivilisten kommen dabei ums Leben – viele davon verhungern.
1970 kapituliert Biafra und die Ölfelder fallen wieder in die Macht der Militärregierung.
1972 beginnt auch der italienische Mineralölkonzern Agip damit, im Nigerdelta Rohöl zu fördern. Als Nebenprodukt fällt Naturgas an. Es ist hochexplosiv und ein Sicherheitsrisiko – aber die Energie wäre nutzbar. Trotzdem wird das Gas noch vor Ort verbrannt. Das ist einfacher als die Gewinnung. Diese lohne sich nicht, heisst es vonseiten der Ölkonzerne. Immerhin: Unverbrannt in die Atmosphäre entlassen, wäre der Effekt der Gase auf den Klimawandel noch grösser.
Und so wird 1972 gleich hinter dem Dorf Akara die Gasfackel der Öl-Förderungsstation Oshie entfacht.
Nigeria ist der grösste Erdölexporteur Afrikas. Im Oktober kommt es zum Jom-Kippur-Krieg und die arabischen Ölexporteure führen ein Embargo gegen israelfreundliche Nationen ein. In der Folge vervierfacht sich der Ölpreis, was die Felder im Nigerdelta noch wertvoller macht.
Nach turbulenten Jahren mit diversen Wechseln an der Spitze der Militärregierung übergibt das Militär die Macht an eine Zivilregierung. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes erhält Nigeria einen demokratisch gewählten Präsidenten.
Aufgrund des Iran-Irak-Krieges steigt der Ölpreis pro Barrel auf 19 Dollar. Nigeria ist nun der sechstgrösste Ölexporteur der Welt – 90 Prozent davon kommen aus dem Nigerdelta. Die jährlichen Einnahmen belaufen sich auf über 20 Milliarden Dollar.
Die Oshie-Gasfackel brennt seit nunmehr 7 Jahren.
Nach umstrittenen Wahlen und der erneuten Machtübernahme des Militärs kommt über Umwegen Ibrahim Babangida an die Macht. Er bleibt bis 1993 im Amt, übersteht unter anderem einen versuchten Staatsstreich im Jahr 1990. Weniger Glück haben seine Gegner: Babangida lässt 69 Verschwörer exekutieren.
Nigeria verbietet offiziell das Abfackeln von Naturgas und führt ein Busssystem ein. Umgesetzt wird beides nur inkonsequent.
Die Oshie-Gasfackel brennt seit 13 Jahren.
Der nigerianische Journalist und Schriftsteller Ken Saro-Wiwa gründet zusammen mit anderen Anführern das MOSOP, das «Movement for the Survival of the Ogoni People», oder zu Deutsch: die Bewegung für das Überleben des Ogoni-Volkes. In einem Grundrechtspapier fordern die Ogoni gegenüber der Regierung Selbstbestimmung, den Schutz der Natur, der Sprachen und einen Anteil an den natürlichen Ressourcen.
Die Oshie-Gasfackel brennt seit 18 Jahren.
In den 15 Jahren zwischen 1976 und 1991 kommt es im Nigerdelta zu 2976 registrierten Ölverschmutzungen. Dabei fliessen 340 Millionen Liter Öl in Gewässer und Böden (2,1 Millionen Barrel). Das entspricht ungefähr dem Jahresverbrauch der Stadt Basel (13,5 Barrel pro Person und Jahr).
Die Oshie-Gasfackel brennt seit 19 Jahren.
Nigerias Bevölkerung wählt nach langer Zeit wieder einmal ein Staatsoberhaupt. Moshood Abiola gewinnt. Doch der entthronte Staatschef Babangida erklärt die Wahlen für ungültig, wird abgesetzt und erneut ergreift das Militär die Macht: Der ehemalige Verteidigungsminister Sani Abacha wird das zehnte Staatsoberhaupt Nigerias. Er wird das Land bis 1998 mit eiserner Hand regieren und dabei auf die Hilfe von 3000 in Nordkorea ausgebildeten Personenschützern zählen.
MOSOP organisiert im Ogoni-Land eine gross angelegte Demonstration. 300'000 Menschen gehen auf die Strasse – fast die Hälfte der gesamten Bevölkerung. Sie demonstrieren für Selbstbestimmung und die Wiederherstellung der zerstörten Natur. Shell stoppt darauf seine Operationen im Ogoni-Gebiet. Bis zu diesem Zeitpunkt hat der Konzern mit Öl aus dem Nigerdelta 100 Milliarden Dollar verdient – 30 Milliarden davon im Ogoni-Land.
Die Oshie-Gasfackel brennt seit 21 Jahren und Abacha lässt erneut das nigerianische Militär in das Ogoni-Land einmarschieren.
Die Colorado School of Mines entwickelt ein Programm zur Überwachung der Erdoberfläche. Mit Hilfe von nächtlichen Satellitenbildern können neu Brandherde auf aller Welt identifiziert werden – zum Beispiel auch Gasfackeln. Die Satellitenbilder enttarnen Dutzende Gasfackeln im Nigerdelta – auch die von Oshie.
Sie brennt nun seit 22 Jahren.
Der Menschenrechtler Ken Saro-Wiwa wird nach einem Schauprozess mit acht weiteren Aktivisten hingerichtet. Es kommt zu weltweiten Demonstrationen.
Die Oshie-Gasfackel brennt seit 23 Jahren.
Woher kommt das Rohöl, das in den Schweizer Raffinerien Cressier (bis heute) und Collombey (bis 2015) zu Heizöl, Diesel und Benzin verarbeitet wird?
1997 zum ersten Mal hauptsächlich aus Nigeria.
Die Oshie-Gasfackel brennt seit 25 Jahren.
In Jesse im Westen des Nigerdeltas sterben bei der Explosion einer Pipeline der regierungseigenen Nigerian National Petroleum Corporation (NNPC) 1082 Menschen. Über die Ursache der Katastrophe wird gestritten. Die Regierung macht Plünderer dafür verantwortlich, Augenzeugen berichten von schlecht gewarteten und brüchigen Pipelines. Zur Explosion kommt es am Ende aufgrund einer brennenden Zigarette.
Staatsoberhaupt Abacha stirbt an einem Herzinfarkt. General Abdulsalami Abubakar wird neuer Staatschef und organisiert sofort Neuwahlen. Olusegun Obasanjo, der bereits von 1976 bis 1979 regierte, gewinnt.
Vor der Küste des Nigerdeltas bricht eine Pipeline des Mobile-Konzerns. 40'000 Barrel Öl fliessen ins Meer (6'360'000 Liter). Nur ein kleiner Teil davon wird an die Küste gespült, trotzdem werden viele Fischer arbeitslos. Weil sich die Betroffenen nicht mit Mobile über den Schadensersatz einig werden, kommt es zu Tumulten. Elf Demonstrierende werden dabei erschossen.
Die Oshie-Gasfackel brennt seit 26 Jahren.
Erneut kommt es im Westen des Nigerdeltas zu einer Katastrophe. Zwischen Adeje und Oviri-Court explodiert eine Ölpipeline. Der Unfall kostet über 200 Menschenleben – darunter viele Schulkinder. Lokale Augenzeugen sprechen davon, dass die Pipeline zuvor aufgebohrt worden sei, um illegal Öl abzupumpen. Die Öffnung sei danach nicht mehr geschlossen worden und Anwohner hätten damit begonnen, sich mit Eimern ebenfalls zu bedienen.
Die Oshie-Gasfackel brennt seit 28 Jahren.
ENI, Agips Mutterkonzern, präsentiert Pläne, die Verbrennung von Gas bei der Ölgewinnung im Nigerdelta komplett einzustellen. Die Umsetzung soll bis 2004 erfolgen.
Die Oshie-Gasfackel brennt seit 30 Jahren.
Das «Movement for the Emancipation of the Niger Delta» (MEND) setzt zur Offensive an. Immer wieder attackieren bewaffnete Mitglieder industrielle Ölförderanlagen und entführen ausländische Arbeiter. Sie fordern den Rückzug des nigerianischen Militärs und der Ölunternehmen aus der Region – so lange, bis mit der lokalen Bevölkerung ein akzeptabler Vertrag ausgehandelt wurde.
Die Offensive wirkt. Die Fördermenge im Delta sinkt um 20 Prozent und Shell zieht sich aus dem nordwestlichen Nigerdelta zurück.
Die Oshie-Gasfackel brennt seit nunmehr 34 Jahren, obwohl sie laut den ENI-Plänen vor zwei Jahren hätte gelöscht werden sollen.
Beim Bodo-Creek in der Nähe von Port Harcourt schlägt eine Shell-Pipline leck. Öl fliesst aus. Lokale Fischer und Bauern verlieren ihre Existenzgrundlage. Der Konzern beziffert die ausgetretene Ölmenge auf 260'000 Liter (1640 Barrel). Das US-Unternehmen Accufacts, welches den Vorfall im Auftrag von Amnesty International untersucht, kommt zu einem anderen Ergebnis: Bis zu 680'000 Liter sollen ausgeflossen sein, täglich, während mindestens 72 Tagen.
Shell muss zahlen. 45 Millionen Euro gehen an 15'600 Bauern und Fischer, 25 Millionen an die Gemeinde Bodo. Die Entschädigung entspricht dem nigerianischen Mindestlohn für drei Jahre.
2010 platzt eine Pipeline 35 Kilometer vor der Küste. Erneut fliesst Öl aus – über eine Million Barrel (159 Millionen Liter). Sechs Jahre später muss ExxonMobile der betroffenen Bevölkerung 32 Millionen Dollar Schadensersatz zahlen.
Die Oshie-Gasfackel brennt seit 36, respektive 38 Jahren.
Die «New York Times» berichtet, dass allein im Bundesstaat North Dakota täglich 2,8 Millionen Kubikmeter Naturgas ungenutzt verbrannt werden. Damit könnte man im kalten «Fargo»-Staat eine halbe Million Häuser heizen. Das CO₂, das dabei entsteht, entspricht dem Ausstoss von 384'000 Autos im täglichen Gebrauch.
Die Oshie-Gasfackel brennt seit 39 Jahren.
Nach Schätzungen der Weltbank werden 2018 weltweit 145 Milliarden Kubikmeter Naturgas ungenutzt verbrannt. Das entspricht dem gesamten Jahresbedarf von Zentral- und Südamerika. Nigeria kommt im weltweiten Sündenregister auf den sechsten Platz.
Die Oshie-Gasfackel brennt seit 46 Jahren.
Der Ölpreis steigt auf über 120 Dollar. Die aktuellen Satellitenbilder vom Juli 2022 beweisen: Bei Oshie, hinter dem Dorf Akara, lodert es noch immer.
Im selben Jahr, als die Gasfackel von Oshie entfacht wurde, brachte Elektronik-Hersteller Magnavox eine Weltsensation auf den Markt: die allererste Spielkonsole! Im selben Jahr versuchten fünf Einbrecher in Washington, Abhörwanzen im Hauptquartier der Demokratischen Partei zu installieren. Der Vorfall löste den Watergate-Skandal aus und kostete Präsident Nixon den Job. Die Flamme von Oshie überlebte nicht weniger als zehn amerikanische Präsidenten, und als 1990 endlich sämtliche Schweizer Frauen das Stimm- und Wahlrecht erhielten, loderte das Feuer bei Akara bereits seit 18 Jahren.
Wie viel Gas dabei ungenutzt verheizt wurde, kann rückwirkend nicht berechnet werden. Diese und weitere unserer Fragen wurden von ENI nicht beantwortet.
Mithilfe der Daten kann aber immerhin berechnet werden, wie viel in den letzten zehn Jahren verheizt wurde. Es sind rund 90 Millionen Kubikmeter Naturgas im Wert von elf Millionen US-Dollar pro Jahr. In den letzten zehn Jahren wurden dabei 1,7 Millionen Tonnen CO₂ freigesetzt – so viel, wie 2043 Flüge von Zürich nach New York und retour mit 320 Passagieren produzieren.
Im gesamten Nigerdelta waren Gasfackeln in den letzten zehn Jahren für 100 Millionen Tonnen CO₂ verantwortlich. Die gesamte Schweiz produziert pro Jahr ca. 45 Millionen. Und noch ein Vergleich: Mit dem austretenden Gas der Ölförderungsstelle bei Akara könnte ein Drittel des gesamten Bedarfes des Landes Liechtenstein gedeckt werden.
Aber eben.
Könnte.
Wen interessieren schon Millionen von Tonnen ausgelaufenes Öl, wenn man den seltenen regenbogenfarbenen Waldkautz vor Windrädern und Solarpanels schützen kann.
(Achtung, enthält Ironie & Sarkasmus)