Vielleicht ist die Geschichte von Odysseus und den Sirenen eine der Urszenen des menschlichen Ringens mit der Leidenschaft.
Odysseus lässt sich von seinen Gefährten an den Mast des Schiffes binden, er verstopft ihnen die Ohren mit honigsüssem Wachs, damit sie nichts hören. In Odysseus Lauscher aber dringt der unwiderstehliche Lockgesang, doch fleht er seine Männer an, ihn loszubinden, sind sie taub dafür.
So überlistet er seine Begierde. Er wendet seinen Verstand an, um ihr nicht zu erliegen. Denn gänzlich loswerden kann sie der Mensch nicht. Sie ist immer da, um ihn zu überwältigen. Allein die Vernunft vermag sie zumindest in ihre Schranken zu weisen.
Je zivilisierter die Menschen werden, umso mehr verfallen sie dem Glauben, einzig die Ratio sei der Schlüssel zur Erkenntnis, mit ihr allein gelange man zum guten Leben.
Die Logik stürzt die alten Götter der Leidenschaft und man beginnt über den «Barbaren» zu lachen, den zurückgebliebenen Naturmenschen, der gleich einem Kind die Welt mit Geistern beseelt, weil er sie mit dem Verstand nicht zu fassen vermag.
Allerdings finden sich viele, die für die andere Seite des Menschen plädieren. Für das reine Gefühl und die mutige Tat, für die Seele und die Bereitschaft, für etwas Grosses zu leiden. Das sind zum einen die Künstler: Dichter, Musiker und Maler, die neue Welten erschaffen. Zum anderen die Erfinder, Entdecker und Eroberer, die die bestehende Welt verändern. Denn nie hat wohl einer etwas Schönes oder Wichtiges zustande gebracht, ohne dass das Feuer der Leidenschaft in ihm gelodert hätte.
Ohne Leidenschaft sind all die grossen Taten der Geschichte völlig undenkbar. Ein Alexander der Grosse, ein Caesar, ein Napoleon, ein Mandela wären in ihren Stuben gehockt. Und die Welt wäre geblieben, wie sie sie vorgefunden hatten.
Die Verlierer aber werden von der Geschichte gnadenlos überrollt. So wie der britische Polarforscher Robert Falcon Scott. Ihn hat man vergessen, weil er das erste Wettrennen an den Südpol gegen seinen norwegischen Rivalen Roald Amundsen verloren hat. Als er am 18. Januar 1911, nach unzähligen Entbehrungen, nur noch wenige Meter vor seinem Ziel stand, sah er inmitten dieses erbarmungslosen Schneefelds die norwegische Fahne wehen:
Und alles Lebendige weicht aus diesem Mann, alle Hoffnung, die ihn überhaupt an diesen gottvergessenen Ort getrieben hatte, stirbt in diesem Moment. Auf seiner Rückkehr schreibt er seine letzten Briefe, während draussen der Orkan an die dünnen Zeltwände anrennt. Es sind die Briefe eines Sterbenden, der sich noch einmal an seine Liebsten richtet, an die englische Nation, ja an die ganze Menschheit:
Der Polarforscher Scott stirbt, weil ihn seine Leidenschaft verlässt. Shakespeares Othello wählt den Tod, weil er von Eifersucht zerrfressen, sich selbst nicht mehr erkennt:
In wilder Wut erwürgt er seine Frau Desdemona, «die holdste Unschuld, die je den Blick erhob». Durch böse Intrigen glauben gemacht, sie habe ihn betrogen. Und als er aufgeklärt wird, dass er allein durch Lügen an diesen irrtümlichen Glauben geriet, stürzt er sich in sein eigenes Schwert:
Und während Othello seine sterbenden Lippen auf die toten seiner Braut legt, verabschiedet er sich von der Welt mit den Worten:
Reinste, ungebremste Leidenschaft kann den Menschen zerstören. Deshalb ist er stets versucht, diese unbändige Kraft in sich zu zähmen und das Leiden zu verringern, um zu einem glücklichen und guten Leben zu gelangen.
Dies ist auch der Kern der Philosophie Epikurs. Seelenruhe erreiche man nur, wenn man Furcht, Schmerz und Begierde überwindet.
Seinen schlechten Ruf als exzessfeiernden Hedonisten und Genussprediger verdankt Epikur den christlichen Autoren des 3. und 4. Jahrhunderts (Tertullian, Laktanz), die als erste seine Lehre der Überwindung der Gottesfurcht verdammten, entzöge es doch jeglicher Religion den Boden.
Vom richtigen Verhältnis zwischen Leidenschaft und Vernunft lesen wir auch beim schreibwütigsten Philosophen der Aufklärung; bei Kant, der die Sache moralisch anpackt. Sein berühmter kategorischer Imperativ lautet:
Oder biblisch ausgedrückt: «Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.» (AT, Tobit 4,16) Unmöglich also, allen Begierden hinterherzueifern. Das würde ein zivilisiertes Zusammenleben der Menschen verunmöglichen.
Als Kant nun seine Morallehre verfasste, wohnte er direkt neben dem Gefängnis von Königsberg. Des Morgens stellten sich die Gefangenen im Gefängnishof zum gemeinsamen Singen auf. Kant hat sich nicht mit Wachs die Ohren verstopft, sondern sofort einen Brief an die Gefängnisverwaltung aufgesetzt. Mit der Bitte, man möge die Insassen doch bitte drinnen singen lassen, es störe ihn gar schrecklich bei der Arbeit.
Er war also taub für die «Sprache der Leidenschaft», wie Richard Wagner die Musik bezeichnete. Deshalb verwundert es auch nicht weiter, dass er Sätze verfasste wie diesen:
Zwischendurch müssen unbedingt ein paar Witze her, damit das hier erträglich wird ...
Neben den Begierden, die schöne Menschen in uns hervorrufen, ist da noch die Leidenschaft zu einer Sache. Die rein geistige Hingabe, die Wissenschaftler ihrem Gegenstand entgegenbringen.
Einstein sagte:
Die Neugierde ist der Anfang allen Strebens nach Erkenntnis. Wie viele grosse Männer sind ihr verfallen und bekamen dafür den Schierlingsbecher, endeten auf dem Scheiterhaufen oder unter dem Schafott, weil die Welt für ihr Wissen noch nicht bereit war.
Der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau war der Ansicht, dass solch geartete Leidenschaften Abgeschiedenheit verlangen:
Und Schopenhauer, der König der Pessimisten, war sowieso der Meinung, dass man ganz allein ist auf der Welt, mit seinem kümmerlichen Leben und mit seinem ebenso kümmerlichen Tod, weswegen das einzig für ihn wirklich Erstrebenswerte die Selbstgenügsamkeit ist:
Während der eine also allein im stillen Kämmerchen sitzt und seiner Leidenschaft für Physik, Mathematik oder Philosophie nachgeht, versammeln sich die anderen in rauen Mengen im Fussball-Stadion. Das ist vergleichbar mit dem Menschenauflauf in der römischen Arena, wenn es hiess: Gladiatorenkampf! Oder: Wagenrennen! Nur gestorben wird nicht mehr so viel.
Aber all die roten Köpfe, die Schiribeleidigungen, die Torschreie und Tränen. Wenn Leidenschaft eine das «Gemüt völlig ergreifende Emotion» ist, dann ist das, was in einem Stadion passiert, geballte Massenleidenschaft. Und zwar quer durch alle Bildungs- und Altersschichten hindurch.