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Käfer fahren nicht mehr viele auf den Strassen, schon bald dürften sie nur noch an Oldtimer-Treffen und in Museen zu sehen sein. Was also bleibt von Josef Ganz, dem deutsch-jüdischen Volkswagen-Pionier, dem das Schicksal so übel mitspielte? Unter anderem ein wunderschöner Brief, sorgsam aufbewahrt von der Zürcherin M.T.
Sie fand ihn nach dem Tod ihres Vaters bei der Aktensichtung. Er hatte es versäumt, ihr das Schreiben wie vom Absender aufgetragen zum 20. Geburtstag auszuhändigen. Mit vier Jahren Verspätung öffnete sie ihn doch noch. Darin schreibt ihr Josef Ganz, der Grossonkel in Australien, anlässlich ihrer Geburt 1963:
Der Papa hatte M.T. von dem Onkel und Götti erzählt, den er über alles liebte. Wie er den Volkswagen erfand und das den Nazis überhaupt nicht passte. Aber vieles erfuhr sie erst, als der holländische Journalist Paul Schilperoord nach langjährigen Recherchen den wechselhaften Werdegang des Ingenieurs 2009 in einem Buch nachzeichnete.
Der Grossonkel ist seit fast 50 Jahren tot. M.T. wünscht sich, dass mehr Leute über seinen Anteil am wohl berühmtesten Auto der Welt Bescheid wüssten – und welch hohen Preis er dafür bezahlte. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs begann er, gegen die deutschen Autofirmen zu klagen, die sich grosszügig seiner Patente bedient hatten. Doch ausgerechnet die Schweiz, wo er während des Naziterrors Zuflucht gefunden hatte, machte ihm einen Strich durch die Rechnung.
Josef Ganz wurde 1898 als Sohn einer deutsch-ungarisch-jüdischen Familie in Budapest geboren, bekam aber eine Affinität für die Schweiz praktisch in die Wiege gelegt. Sein Vater, der renommierte Publizist Hugo Ganz, schrieb regelmässig für die «Neue Zürcher Zeitung». Dessen jüngerer Bruder Alfred, ein erfolgreicher Kaufmann, hatte sich in der Schweiz niedergelassen. In seiner prächtigen Villa in der Nähe von Luzern verbrachte Neffe Josef des öfteren die Ferien. Als er später Chefredaktor der «Motor-Kritik» wurde, besuchte er die Schweiz auch beruflich: Er schätzte die Alpenpässe für Testfahrten, weil sie Schwachstellen bei Automobilen schonungslos und zuverlässig zu Tage förderten.
Nachdem die Nazis ihn faktisch mit einem Arbeitsverbot belegt hatten und er einige Monate in einem Gestapo-Gefängnis verbracht hatte, floh Ganz 1934 in die Schweiz. Der zu diesem Zeitpunkt 36-Jährige befand sich auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft und war keineswegs gewillt, sich von den Rückschlägen in seiner deutschen Heimat demotivieren zu lassen. Anlässlich eines Treffens mit Vertretern des Kantonalen Arbeitsamts in Zürich demonstrierte er die von ihm entwickelten Kleinwagen Maikäfer und Standard Superior. Die Reaktion war durchwegs positiv, was die Möglichkeit einer Produktion in der Schweiz eröffnete. Das Eidgenössische Militärdepartement (EMD) zeigte sich zudem an der Entwicklung eines Armeefahrzeugs interessiert.
Ende 1936 unterzeichneten Ganz' Anwalt in der Schweiz und die Volkswirtschaftsdirektion des Kantons Zürich einen Vertrag über die Entwicklung des Schweizer Volkswagens. Dieser Schritt bescherte ihm nicht nur ein Einkommen, sondern auch eine Aufenthaltsbewilligung, die allerdings jährlich zu erneuern war.
1937 konnte er der Presse seinen ersten Prototypen präsentieren, einen Zweisitzer mit stromlinienförmiger Karosserie und offenem Verdeck auf Basis des Maikäfers. «Der Wagen ist äusserst einfach durchkonstruiert, jedoch keineswegs auf Kosten seiner Bequemlichkeit, Leistungsfähigkeit oder Robustheit», schrieb ein Redaktor der Zeitschrift «Touring» nach einer Probefahrt.
1939 hätte die Vorserienproduktion beginnen sollen, doch dann brach der 2. Weltkrieg aus. Und auch ein anderes Problem war Ganz aus Deutschland in die Schweiz gefolgt: Paul Erhardt, sein ehemaliger Mitarbeiter bei der «Motor-Kritik», der ihn bei der Gestapo denunziert hatte. Dieser versuchte nun, ihn bei den Schweizer Behörden anzuschwärzen. Der Zürcher Fremdenpolizei schrieb Erhardt 1939:
Erhardt reiste in diesen Jahren erwiesenermassen mehrmals in die Schweiz und wurde jeweils von der Polizei verhört, weil auch Ganz gegen ihn aktiv geworden war. Dieser fürchtete sich vor dem langen Arm der Gestapo und gleichgesinnten Schweizer Beamten – nicht zu Unrecht, wie eine Episode aus dem Jahr 1944 belegt. Eines Tages klingelten zwei Detektive der Zürcher Polizei in seiner Wohnung an der Witikonerstrasse. Es ging um seinen Antrag um Aussetzung der Wegweisungsverfügung. Der Rapport der beiden Polizisten strotzt vor antisemitischer Klischees:
Trotz Schulden von rund 28'000 Franken unterstellten sie ihm zudem, «auf grossem Fuss zu leben» und in seinem Volkswagen mit Benzinrationen herumzufahren, die für Testfahren gedacht seien, obwohl er ein Jahresabo für das Tram erhalten hatte:
Ganz entschied, diese Ungeheuerlichkeit der Presse zuzuspielen, was zu einem regelrechten Skandal führte. Die Medien waren ihm mehrheitlich wohlgesinnt. So schrieb der «Tages-Anzeiger»:
Es gab aber auch andere Reaktionen. Die NZZ spielte die Sache herunter und verstieg sich nach einer Interpellation im Zürcher Gemeinderat zur Causa Ganz zu einer erstaunlichen Behauptung:
Nach Kriegsende begann die Produktion des Schweizer Volkswagens in einer Kleinserie von 36 Stück, doch das Projekt stand unter keinem guten Stern. Die ausführende Firma Rapid in Dietikon hatte seit längerem versucht, sich Ganz' Patente zu bemächtigen. Unterstützt wurde sie dabei von einem Beamten des Departements für Industrie, Handwerk und Arbeit und einem Polizeidetektiv mit mutmasslich antisemitischer Gesinnung. Ihr Ziel: Der Wagen müsse «in rein schweizerische Hände» übergehen. Rapid schreckte nicht einmal davor zurück, Ganz' Zeichnungen zu kopieren, an einigen Stellen abzuändern und anschliessend als komplett neu entwickelte Version darzustellen.
Der Schweizer Volkswagen, dem Ganz im Rahmen einer Weiterentwicklung eine leichte Aluminium-Karosserie verpasst hatte und darum «Silberfisch» genannt wurde, hätte konkurrenzlos günstig gebaut werden können. Experten schätzten einen Stückpreis von 1200 Franken bei einer Serienproduktion von mindestens 1000 Stück. Doch die Schweizer griffen nach dem Krieg nach den wesentlich teureren Volkswagen Käfer und dem auffallend ähnlich designten Fiat Topolino. Einmal mehr hatte Ganz das Nachsehen.
Immerhin bestand nach dem Untergang des Dritten Reichs die Möglichkeit, in der Bundesrepublik Deutschland gegen das erlittene Unrecht zu klagen: Einkommensverlust infolge Nichtigerklärung von vier seiner Patente, die Kündigung seiner Verträge mit Daimler-Benz, BMW und Standard Fahrzeugfabik auf Druck der Nazis, sowie ausgebliebene Lizenzzahlungen für den nach seinen Patenten gebauten Deutschen Volkswagen und die Mercedes-Benz-Modelle 130H und 170H.
Zurück nach Deutschland wollte er nicht, wie sich bald zeigen würde. Gleichzeitig wäre es kein Problem gewesen, diese Prozesse von der Schweiz aus zu führen. Wieder einmal wollte es das Schicksal anders.
Josef Ganz widerfuhr so manches Unrecht in seinem Leben, doch Opferrolle und Selbstmitleid waren seine Sache nicht. Unzählige Male entschied er sich zur Klage und hatte sogar wiederholt vor der NS-Justiz Recht bekommen. Infolge der Berichterstattung über den besagten Polizeirapport von 1944 (siehe oben) hatten die beiden betroffenen Detektive Ganz und seinen Anwalt wegen Ehrverletzung verklagt. Ganz reagierte seinerseits mit verschiedenen Nebenklagen, zum Schluss sogar gegen einen Zürcher Oberrichter, und beantragte den Ausstand all seiner Kollegen. Ein Journalist vermerkte, dass die Causa Ganz in allem so kompliziert geworden war, dass sie «die Justiz selbst lahmzulegen droht».
Im Oktober 1950 erneuerten die Schweizer Behörden völlig überraschend Ganz' Aufenthaltsbewilligung, die sie seit 1935 jährlich verlängert hatten, nicht mehr. Dieser war zu diesem Zeitpunkt staatenlos, da ihn die Nazis 1938 ausgebürgert hatten. Die naheliegendste Lösung, nach Deutschland zurückzukehren, wo er die deutsche Staatsangehörigkeit automatisch wiedererlangt hätte, verwarf er. Vermutlich aus Angst vor Paul Ehrhardt und anderen NS-Schergen, die mehr oder weniger unbehelligt in der Bundesrepublik in Verwaltung und Industrie neue Existenzen aufbauten.
Ganz verliess die Schweiz noch im Oktober 1950 Hals über Kopf Richtung Paris. In Genf hatte er eine letzte Begegnung mit Ferdinand Porsche, der bei ihm den Eindruck erweckte, «vieles durchgemacht zu haben». Er war nach 22 Monaten in französischer Kriegsgefangenschaft freigekommen und verstarb wenig später 76-jährig. In Paris erlitt Ganz den ersten von mehreren Herzinfarkten. Er gelangte zur Überzeugung, dass seine Zeit in Europa abgelaufen war. Er floh weit weg, nach Australien. Dort verstarb er 1967.
Bis heute sind die Umstände von Ganz' Ausweisung myteriös. Hatte er den Bogen überspannt und war zu vielen Leuten in der Schweiz auf den Schwanz getreten? Er selbst war überzeugt, Opfer eines «nationalsozialistischen Spionagenetzwerks» geworden zu sein. Wenige Wochen nach seiner Ausweisung erschien in der griechischen Zeitung «Dimokratikos» ein Artikel, in dem Ganz in diese Richtung zitiert wurde. Der Artikel weckte das Interesse der Schweizer Botschaft in Athen, die sich im Anschluss an die Bundesanwaltschaft wandte mit der Bitte um Aufklärung. Diese antwortete, der «sensationell präsentierten Nachricht» lägen «keine wirklichen Ereignisse zugrunde». Im weiteren Verlauf schaltete sich auch die Stadtpolizei Zürich in die Korrespondenz ein:
Dass Ganz Opfer einem «nationalsozialistischen Spionagenetzwerks» zum Opfer fiel, ist nicht belegt. Die damaligen Aussagen der Behörden, wonach in der Schweiz nichts dergleichen existierte, treffen allerdings auch nicht vollständig zu. Wie die Bergier-Kommission zutage förderte, gab es durchaus Beamte mit faschistischer Gesinnung. Ganz selbst hatte es am Beispiel der beiden Polizeidetektive erlebt, die ihn in ihrem Bericht als geldgierigen Parasiten beschrieben. Auch dass die Gestapo in der Schweiz aktiv war, ist historisch belegt.
Aus welchen Gründen auch immer Ganz 1950 die Schweiz verlassen musste – die anschliessende Flucht nach Australien und seine fragile gesundheitliche Verfassung verunmöglichten in der Folge die Wahrnehmung seiner Rechte in Deutschland. Wie lange Post zwischen Australien und Europa brauchte, zeigte der eingangs erwähnte Brief an seine Grossnichte, der zwei Monate unterwegs war.
So bleibt die Rolle der Schweiz, mit der Ganz seit seiner frühesten Jugend verbunden war, zwiespältig: Sie bot ihm Schutz, als Juden fast nirgends mehr in Europa sicher waren. Und sie verstiess ihn, als er sich ein letztes Mal gegen sein Schicksal hätte stemmen können.
Während er in Deutschland noch auf Anerkennung wartet – ein Antrag auf Verleihung des Bundesverdienstkreuzes erster Klasse scheiterte 1965 an einer Formalität – ist ihm ein Platz in der Schweizer Automobilgeschichte sicher: Seit 1969 steht im Verkehrshaus Luzern eines der 36 Exemplare des Schweizer Volkswagens. Im dazugehörigen Auskunftsblatt heisst es:
Ganz' Silberfisch war das letzte vollständig in der Schweiz gebaute Auto.