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Eine Geschich­te von Widerstand und Flucht

Die Zollstelle Valmara - Madonna di Ponte um 1940.
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Die Zollstelle Valmara - Madonna di Ponte um 1940.Bild: ETH Bibliothek Zürich

Eine Geschich­te von Widerstand und Flucht

Während des Zweiten Weltkriegs versuchten zahlreiche Menschen vor der Verfolgung über die italienisch-schweizerische Grenze ins Tessin zu flüchten. So auch Egone Gruenberger, dem die Flucht in die Freiheit erst beim zweiten Versuch und nach langen Strapazen gelang.
04.02.2024, 22:4605.02.2024, 16:29
Raphael Rues / Schweizerisches Nationalmuseum
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Wir schreiben das Jahr 1943. Der Zweite Weltkrieg wütet in Europa und wirft einen langen Schatten der Angst und Ungewissheit auf Millionen von Menschen. Besonders in Italien wird die Situation immer verworrener. Nach dem Putsch vom 25. Juli 1943 wird Benito Mussolini aus der Regierung gedrängt und ins Gefängnis gesteckt. Nachdem die Alliierten in Nordafrika gesiegt haben, landen sie im Sommer 1943 in Sizilien und befreien die Insel.

Mit der Zustimmung von König Vittorio Emanuele beschliesst die Militärregierung von General Pietro Badoglio, das Bündnis mit Nazi-Deutschland zu verlassen und Verhandlungen über einen Waffenstillstand mit den Alliierten aufzunehmen. Das Chaos bricht ab dem 8. September 1943 aus, als der Waffenstillstand erklärt wird.

In ganz Norditalien kommt es zu einer Massenflucht, bei der allein im Tessin mindestens 20’000 Flüchtlinge ankommen, hauptsächlich italienische Soldaten und ehemalige alliierte Gefangene. Viele von denjenigen, die nicht in die Schweiz fliehen können, vor allem italienische Militärangehörige, werden mit dem Zug durch Österreich ins Deutsche Reich deportiert. Im Laufe der Tage wird Norditalien von deutschen Truppen militärisch besetzt, die auch Jagd auf jüdische Personen machen.

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Einer von ihnen ist der 1920 geborene Egone Gruenberger, ein junger jüdischer Mann, der zu dieser Zeit mit seiner schwangeren Frau in Fiume (damals Italien, heute Rijeka in Kroatien) lebt. Als die Nazis das Land unter ihre Kontrolle bringen, werden Egone und vier Angehörige seiner Familie immer stärker von Verfolgung und Deportation bedroht.

Porträt von Egone Gruenberger.
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Porträts von Egone und ...Bild: Schweizerisches Bundesarchiv
Porträt von Edith Gruenberger.
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... Edith Gruenberger.Bild: Schweizerisches Bundesarchiv

Die Situation für die jüdische Gemeinde ist im Herbst 1943 sehr schwierig. Mussolini kehrt nach seiner «Befreiung» nach Italien zurück und setzt eine Marionettenregierung – bekannt als Repubblica di Salò – ein, die grösstenteils aus Hardliner-Faschisten besteht und Jüdinnen und Juden verfolgt.

In seiner Verzweiflung, den Fängen der Nazis zu entkommen, begibt sich Egone mit seiner Familie – seine schwangere Frau Edith, die Mutter Adele, die Tante Regina und sein Bruder Erico – auf eine gefährliche Reise über Mailand und Cannobio, um in der Schweiz Zuflucht zu suchen. Am 17. Dezember 1943 versucht die Familie Gruenberger, nicht ohne 55’000 italienische Lira – heute eine beträchtliche Summe – für den heimlichen Grenzübertritt bezahlt zu haben, die Grenze bei Brissago zu überqueren.

Ihre Hoffnungen werden jedoch enttäuscht, als sie von Schweizer Grenzsoldaten oberhalb von Brissago am Berghang abgefangen und am nächsten Tag zurückgeschickt werden. Da die beiden älteren Frauen die Strapazen einer erneuten Bergwanderung nicht mehr schaffen, wird die Familie Gruenberger von Brissago mit dem Boot nach Dirinella, auf der anderen Seite des Lago Maggiore, gefahren und dort an die Grenze geführt. Nur Egones Frau Edith, die im fünften Monat schwanger ist, darf in der Schweiz bleiben.

Schifflände von Brissago, um 2000.
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Schifflände von Brissago, um 2000.Bild: ETH Bibliothek Zürich
Einvernahmeprotokoll vom Februar 1944, das von der Aufnahme Edith Gruenbergers bei gleichzeitiger Abweisung der restlichen Familie berichtet.
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Einvernahmeprotokoll vom Februar 1944, das von der Aufnahme Edith Gruenbergers bei gleichzeitiger Abweisung der restlichen Familie berichtet.Bild: Schweizerisches Bundesarchiv

Nach einem kurzen Fussweg wird die Familie von deutschen Zollgrenzschutzsoldaten am Bahnhof von Pino gefangen genommen. Ihre Absicht war es, nach Luino zurückzukehren und dann nach Mailand weiterzureisen. Der deutsche Zollgrenzschutz, der die italienische Grenze zum Tessin besetzte, wurde im September 1943 von Österreich und Frankreich in aller Eile eingesetzt.

Es handelt sich um ältere Soldaten, die eher Zöllnern ähneln. Sie sollten später im Kampf gegen die Partisanen viele Probleme haben, unter anderem wegen schlechter Bewaffnung und Ausbildung. Leicht fiel ihnen jedoch die Gefangennahme von jüdischen Menschen (aber auch italienischen und Alliierten-Soldaten sowie Zivilistinnen und Zivilisten), die von Schweizer Grenzwächtern und Armee zurückgewiesen wurden.

Egone und seine Familie werden in Varese inhaftiert, wo sie unter harten Bedingungen und der ständigen Gewaltandrohung leiden. Egones schriftliches Zeugnis, das von der Tessiner Historikerin Renata Broggini erstmals zitiert wurde, ist eindeutig. Es enthält die Namen mehrerer Jüdinnen und Juden, die an der Grenze erwischt wurden. Es lässt sich nicht feststellen, ob sie alle zuvor von den an der Grenze postierten Schweizer Truppen zurückgewiesen worden waren oder ob sie auf dem Weg zur Grenze, aber noch auf italienischem Gebiet gefangen genommen wurden.

Nach einigen Wochen in Varese wird Egone in das San-Vittore-Gefängnis im Zentrum von Mailand verlegt, ein berüchtigtes Symbol für Unterdrückung und Folter. Hier gibt es einen ersten Fluchtversuch mit anderen jüdischen Kameraden, der aber scheitert. Egone berichtet, wie die Gefangenschaft in Mailand erneut von Schlägen und Folter begleitet wird. Die Deutschen haben Norditalien erst seit ein paar Monaten besetzt, und doch läuft die gut geölte Verfolgungsmaschinerie bereits auf Hochtouren.

Das San-Vittore-Gefängnis auf einer Aufnahme um 1880.
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Carcere_s-vittore_1880.jpg
Das San-Vittore-Gefängnis auf einer Aufnahme um 1880.Bild: Wikimedia

Ende Januar 1944 werden Egones schlimmste Befürchtungen wahr, als er und seine Familienangehörigen in einen Zug nach Auschwitz-Birkenau verladen werden, dem berüchtigten Konzentrationslager im nationalsozialistisch besetzten Polen. Der Zug fährt vom verschrienen Binario 21 im Mailänder Stazione Centrale ab, der heute ein Museum zum Gedenken an die Shoah ist. Der Konvoi mit 600 Gefangenen besteht hauptsächlich aus jüdischen Familien, die an der Tessiner Grenze bis Januar 1944 abgewiesen oder gefangen genommen wurden.

Das Museum Binario 21 zeigt den Güterwagen, in dem die jüdischen Menschen deportiert wurden. Offensichtlich ein unbequemes Gedenken, denn aufgrund vieler Drohungen und Angriffe in den letzten Jahren w ...
Das Museum Binario 21 zeigt den Güterwagen, in dem die jüdischen Menschen deportiert wurden. Offensichtlich ein unbequemes Gedenken, denn aufgrund vieler Drohungen und Angriffe in den letzten Jahren wird der Eingang stets von einer Eskorte der italienischen Armee bewacht.Bild: Memoriale della Shoah / Foto: Raphael Rues
Am unterirdischen Bahnsteig 21 befand sich ursprünglich die Poststation. Die Waggons wurden beladen und mit einem Aufzug an die Oberfläche gebracht. Eine «Mauer der Namen» erinnert nun an die Menschen ...
Am unterirdischen Bahnsteig 21 befand sich ursprünglich die Poststation. Die Waggons wurden beladen und mit einem Aufzug an die Oberfläche gebracht. Eine «Mauer der Namen» erinnert nun an die Menschen, die von dort in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurden. Die Namen der wenigen Überlebenden sind in Orange geschrieben.Bild: Memoriale della Shoah / Foto: Raphael Rues

Egones Bericht ist einzigartig und präzise. Wir kennen die Zeit der Abreise aus Mailand und auch die Nummer, die ihm für den Transport zugeteilt wurde. In jedem Güterwaggon befinden sich 56 Juden. Der Zug wird von einer Kompanie der SS-Polizei eskortiert, derselben Einheit, die ein paar Monate später in der Region Ossola Jagd auf Partisanen machen wird und die Partisanenrepublik Ossola niederschlagen wird.

In der Nähe von Verona ergreift Egone die Gelegenheit, mit zwei anderen Männern aus dem fahrenden Zug zu springen und zu fliehen. Mit klopfendem Herzen und scharfem Verstand verschwindet er in den umliegenden Wäldern bei Cerea, unweit von Verona. Nachdem er in einer Kirche Zuflucht gefunden hat, wird er von einer einheimischen Familie aufgenommen und versorgt. Zum ersten Mal seit 60 Tagen kann er ein Bad nehmen, Kleider wechseln und anständig essen.

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Einige Wochen später macht sich Egone auf den Weg zurück nach Mailand. Erschöpft, aber unversehrt, sucht er Unterschlupf bei einem Netzwerk von Widerstandskämpfern, die ihm eine falsche Identität geben. Der einzige Zweck des Ausweises ist, dass er wieder über die Grenze in die Schweiz fliehen kann. Seine Frau ist in der Zwischenzeit ins Südtessin gebracht worden.

Schnelle Änderung der Flüchtlingspolitik

Mit neuer Entschlossenheit unternimmt Egone einen weiteren Versuch, in die Schweiz zu gelangen. Diesmal schliesst er sich dank eines Kontakts in Masera einer Gruppe von lokalen Partisanen an, welche die entlegensten Routen durch die Berge des oberen Ossola-Gebiets genau kennen. Allerdings ist die Route von Masera aus schwierig und mitten im Winter besonders riskant.

Nach tagelangem, zermürbendem Fussmarsch erreicht Egone schliesslich die Schweizer Grenze am 19. Februar 1944. Es folgen verschiedene Verhöre und Protokolle. Wie schnell sich die Zeiten ändern, zeigt die Tatsache, dass er dieses Mal, obwohl er sich als Jude offen ausweist, von den Schweizer Behörden im Onsernonetal ohne Probleme aufgenommen wird. Die Zurückweisungen von Juden an der Südgrenze zu Italien endeten im Laufe des Dezembers 1943, später wurden grundsätzlich alle Juden aufgenommen. Das Besondere am Fall Gruenberger ist, dass er nach dem derzeitigen Stand der Forschung wahrscheinlich der letzte dokumentierte Fall von Abweisung ist (18.12.1943).

Fragebogen beantwortet von Egon Gruenberger nach dem zweiten, erfolgreichen Versuch, in die Schweiz einzureisen. Bellinzona, 20.2.1944.
https://www.recherche.bar.admin.ch/recherche/#/de/archiv/einheit ...
Fragebogen beantwortet von Egon Gruenberger nach dem zweiten, erfolgreichen Versuch, in die Schweiz einzureisen. Bellinzona, 20.2.1944.Bild: Schweizerisches Bundesarchiv

In der Schweiz beginnt Egone gemeinsam mit seiner Frau ein neues Leben, frei von Angst und Unterdrückung, die er in Italien ertragen musste. Das erste Kind hat Edith Gruenberger verloren. 1947 kehrt das Familienglück in Form des ersten Sohnes des Ehepaars zurück. 1945 zieht die Familie nach Mailand, wo Egone 1998 stirbt.

Egone Gruenbergers Flucht aus den Fängen des Nationalsozialismus fand schliesslich ein glückliches Ende. Andere hatten dieses Glück nicht. Der Konvoi, auf dem der Rest seiner Familie blieb, kam bereits am 7. Februar 1944 in Auschwitz-Birkenau an. Von den 600 Jüdinnen und Juden, die aus Mailand in diesen Transport deportiert worden sind, überlebten nur knapp vier Prozent. Eine der 22 Überlebenden ist die heutige 93-jährige italienische Senatorin Liliana Segre. Sie war damals 13 Jahre alt und war zusammen mit ihrem Vater und zwei älteren Onkeln Anfang Dezember 1943 in Arzo bei Mendrisio von einer Freiburger Infanterie-Einheit zurückgewiesen worden.

Im Rahmen des Shoa-Gedenktags vom 27. Januar 2024 hat die Bürgerorganisation «Gruppo per la Memoria a Brissago 1943/45» mit einer Konferenz an die Abweisung der jüdischen Familie Gruenberger erinnert.

In der gleichen Region gibt es die «Percorso della Speranza», die den Ereignissen dieser Zeit nachspürt, während der Verein Insubrica Historica ein Trekking entlang der Wege anbietet, die Flüchtlinge, Partisanen und Deserteure nahmen, um in die Schweiz zu gelangen.
>>> Weitere historische Artikel auf: blog.nationalmuseum.ch
watson übernimmt in loser Folge ausgesuchte Perlen aus dem Blog des Nationalmuseums. Der Beitrag «Eine Geschich­te von Widerstand und Flucht» erschien am 23. Januar.
blog.nationalmuseum.ch/2024/01/eine-geschichte-von-widerstand-und-flucht
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19 Kommentare
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Sani-Bär
05.02.2024 05:50registriert April 2021
Herzlichen Dank für diesen Beitrag.

Es zeigt leider auch, dass die "neutrale" Schweiz auch früher nicht sonderlich "neutral" war:
die Nazi-Vermögen wurden sehr gerne "aufgenommen", aber am Leben bedrohte Flüchtlinge erst ab Dezember 1943 und sie wurden gar nicht gerne aufgenommen (das Boot ist voll).
Erst als sich die Niederlage der Nazis schon sehr deutlich abzeichnete, änderte die "neutrale" (Nazi) Schweiz zögerlich ihre Rückweisungen in Aufnahme um.

Auch wenn es die heutige "neutrale" Schweiz nicht hören will:
wirklich "neutral" war die Schweiz nie.
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mstuedel
05.02.2024 00:33registriert Februar 2019
Ein weiterer spannender Blogbeitrag aus dem Nationalmuseum. So wird Geschichte lebendig vermittelt. Herzlichen Dank!
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