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Tagebuch von Ernst Gerber – ein Berner im Winter 1941/42 an der Ostfront

1941 entsandte die Schweiz eine Ärztemission nach Russland an die Ostfront.
1941 entsandte die Schweiz eine Ärztemission nach Russland an die Ostfront.bild: keystone

«Zwischen Verrat und Menschlichkeit» – ein Berner im Winter 1941/42 an der Ostfront

Der Berner Ernst Gerber steht im Winter 1941/42 als Sanitätsgefreiter mit der Deutschen Wehrmacht an der Ostfront. Krieg im Osten – das war gestern, in einer fernen Zeit. Doch nun ist sein Tagebuch über diesen Einsatz angesichts der schrecklichen Tragödie in der Ukraine von beklemmender Aktualität.
12.06.2022, 17:15
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Am 9. April 1990 bekommt Hans Wildbolz einen Brief von Ernst Gerber. Der Sanitätsgefreite lässt dem pensionierten ehemaligen Ausbildungschef der Schweizer Armee (von 1978 bis 1981) sein in Buchform herausgebrachtes Tagebuch zukommen. Darin schildert der im bernischen Huttwil (in der Nähe von Langenthal) aufgewachsene Krankenpfleger auf der Basis täglicher Notizen seinen Einsatz mit einer Ärztemission des Roten Kreuzes an der Ostfront auf der Seite der Deutschen. Was auf die heutige Zeit übertragen mit einer humanitären Mission in der russischen Armee in der Ukraine vergleichbar ist. So wie die Russen heute in der Ukraine waren damals die Deutschen in Russland die Aggressoren.

Der Einband des Tagebuchs von Ernst Gerber.
Der Einband des Tagebuchs von Ernst Gerber.bild: zvg

Dass es ein humanitärer, ganz offiziell vom Roten Kreuz und von unserer Armee mitorganisierter Dienst war, zählt nicht. Ernst Gerber sieht sich Jahrzehnte später Kritik ausgesetzt, weil er auf der falschen, auf der bösen Seite im Einsatz war. Ein Kritiker bringt es so auf den Punkt: «Zwischen Verrat und Menschlichkeit».

Im Rückblick, im Wissen, wie alles gekommen ist, im Wissen auch um den verbrecherischen Krieg, den die Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion geführt haben, ist diese Kritik ungerecht und billig: Zum Zeitpunkt seines Hilfseinsatzes konnte Ernst Gerber das wahre Gesicht dieses Krieges nicht kennen. Nicht einmal unsere Regierung dürfte im Bilde gewesen sein. Sonst wäre dieser Einsatz kaum hochoffiziell bewilligt und von unserer Armee organisiert worden.

Der Sanitätsgefreite Ernst Gerber.
Der Sanitätsgefreite Ernst Gerber.bild: zvg

Ernst Gerber, später wohnhaft in Luzern, erkundigt sich in dem Brief beim ehemaligen Armee-Ausbildungschef und Korpskommandanten auch über zwei Herren, die damals mit dieser Mission nach Russland (bzw. die Sowjetunion) reisten. Er schreibt in dem Brief: «Eines hätte mich im Zusammenhang mit der Mission noch interessiert und vielleicht wissen Sie darüber Bescheid. Ich habe es im Buch nicht erwähnt, um nicht Staub aufzuwirbeln. Wir hatten als getarnte Chauffeure die Herren von Selve und Leutenegger (ein Fliegeroberleutnant) dabei. Ich weiss, dass Herr von Selve keine Chauffeur-Aufgabe hatte, sondern weit und breit die Panzer und deren Metallqualität untersuchte. Wer hat gewünscht, dass diese zwei Herren mit unserer Mission nach Russland gingen?» Wir haben es hier wahrscheinlich mit zwei Spionen unseres Nachrichtendienstes und der eidgenössischen Metall- und Rüstungsindustrie zu tun.

Bild
bild: zvg

Hans Wildbolz kann die Sache mit den zwei offenbar als Chauffeure getarnten Spionen auch nicht mehr aufklären. Nach gut 50 Jahren profitiert diese Angelegenheit von der Wohltat des Vergessens. Wobei: Eigentlich müssten solche «007-Agenten-Aktionen» Historiker interessieren. Aber wir wollen nicht grübeln.

Hans Wildbolz, damals in Oberhofen im Berner Oberland lebend, hat Ernst Gerber am 26. Mai 1990 freundlich zurückgeschrieben, seinen humanitären Einsatz gewürdigt und um ein persönliches Treffen ersucht. Ob der Korpskommandant und der Sanitätsgefreite dann tatsächlich zusammengesessen sind, kann nicht mehr in Erfahrung gebracht werden.

Kehren wir also zurück zum Russland-Abenteuer von Ernst Gerber. Wie kommt eine Schweizer Ärztemission mit der Deutschen Wehrmacht an die Ostfront? Er ist nicht viel älter als 21 Jahre und schreibt über den 16. September 1941, der sein Leben verändern wird:

«Heute ist eine Inspektion durch den Herrn Oberfeldarzt angekündigt. Es ist immer das gleiche, viel Aufregung, und dann ist die Sache in wenigen Minuten vorbei. Aber es ist doch noch eine Überraschung, wenigstens für die Spezialisten unserer Einheit. Zum Abschluss erklärt der hohe Herr: ‹In der nächsten Zeit wird eine schweizerische Ärztemission für die deutsche Ostfront gebildet. Für Operationspersonal ist die Möglichkeit vorhanden, an dieser Mission teilzunehmen und sich für den Kriegsfall weiter auszubilden.› Für die meisten Sanitätssoldaten hat diese Neuigkeit keine Bedeutung. Sie geht nur die zugeteilten Operationsschwestern und die noch weniger zahlreichen ausgebildeten Operationsgehilfen, genannt Chir. Militärwärter, etwas an. Ich bin von dieser Sorte. Der Rest des Tages geht vorüber. Im Stroh, bei tiefster Dunkelheit komme ich erst dazu, diese Ankündigung aufzunehmen und zu verarbeiten. Das wäre eine Gelegenheit, um weiterzukommen. Aber bald verwerfe ich den Gedanken wieder. Welche Chance sollte ich blutjunger, frisch aus dem Examen entstiegener Pfleger haben? Da melden sich bestimmt eine Menge erfahrene Leute an.»

Ein deutscher Generalmajor begleitet die Schweizer Mission nach Russland.
Ein deutscher Generalmajor begleitet die Schweizer Mission nach Russland.bild: keystone

«Meine Ausbildung von zweieinhalb Jahren Krankenpflege und einem halben Jahr als Operationsgehilfe (Spezialkurs vom Militär aus) sowie die Sanitätsrekruten- und Gefreitenschule und einige Monate Aktivdienst mit der Leitung eines Krankenzimmers bei der Truppe habe ich zwar hinter mir und ich glaube mich auch im Vollbesitz von einigen theoretischen und praktischen Kenntnissen. Ich kann narkotisieren, instrumentieren und assistieren. Ich seziere selbständig und führe im Spital eine chirurgische Abteilung mit Frischoperieren und Knochenbrüchen, die meistens im Streckverband liegen. Daneben habe ich im ganzen Haus bei der Einrichtung von Streckverbänden, auch in der Frauenabteilung mitzuhelfen und fahre, wenn es die Zeit erlaubt, als Beifahrer mit dem Krankenauto zu Notfallen, besonders nachts. Mit ganzer Seele bin ich Krankenpfleger und liebe meinen Beruf.»

Am 4. Oktober 1941 wird Ernst Gerber überraschend als einer von zwei Pflegern in die Expedition aufgenommen. Es ist eine Ärzte- und Schwesternmission, organisiert vom Komitee für Hilfsaktionen unter dem Patronat des Schweizerischen Roten Kreuzes und gilt als offizieller Militärdienst. Kommandiert wird sie von Oberstleutnant Dr. G. von Wyttenbach.

Es gibt ein paar Regeln zu befolgen: Jegliche Kritik und Diskussion politischer Natur sind strikte verboten. Taktvolles Benehmen gegenüber den deutschen vorgesetzten Stellen und der Bevölkerung ist Ehrensache. Jegliches Fotografieren ist verboten. Die Mission setzt sich zusammen aus fünfzehn erfahrenen Chirurgen, fünfzehn Assistenzärzten, dreissig Operations- und Narkoseschwestern, zwei Pflegern (einer davon ist Ernst Gerber), einem Laborgehilfen, fünfzehn Chauffeuren (zwei davon sind offensichtlich Spione) und Dolmetschern, drei Sekretärinnen und einem Quartiermeister. Sieben Autos und ein Eisenbahnmaterialwagen gehören dazu.

Die Autokolonne – alle Wagen sind mit dem roten Kreuz im weissen Feld gezeichnet und haben Kontrollschilder des Kantons Aargau – startet am 25. Oktober 1941 in Aarau. Die weisse Farbe wird, weil zu auffällig, grau überspritzt. Bereits kurz nach der Abfahrt wird bekannt, dass Gomel als Einsatzgebiet vorgesehen ist. Doch dort wird die Einheit nie ankommen. Sie wird noch weiter in den Osten verlegt.

Die Sanitätswagen der Schweizer Sanitätsdelegation.
Die Sanitätswagen der Schweizer Sanitätsdelegation.bild: keystone

Die Teilnehmer reisen nicht mit den Autos. Sie fahren mit der Eisenbahn über Berlin, Warschau nach Smolensk. Dort kommt Ernst Gerber am 24. Oktober 1941 an. Hier wird die Mission in Gruppen eingeteilt. Ernst Gerber kommt mit seiner Gruppe noch weiter im Osten in einem Lazarett in Juchnow zum Einsatz. Eine Kleinstadt mit heute rund 7000 Einwohnern. Sie liegt etwa 150 km südwestlich von Moskau. Am 29. Oktober 1941 trifft er dort ein.

Der Weg nach Juchnow.
Der Weg nach Juchnow.bild: zvg

Bis zu diesem Zeitpunkt war alles eine Abenteuerreise gewesen. Nun wird er eintreten in einen Albtraum. Denn hier ist eine der am härtesten umkämpften Fronten des 2. Weltkrieges zeitweise weniger als 100 Kilometer entfernt. Der Angriff der Deutschen Wehrmacht auf Moskau («Operation Taifun» der Heeresgruppe Mitte) rollt noch. Bald wird der Vormarsch im Schlamm stecken bleiben.

Ernst Gerber beschreibt das Lazarett, das gerade mal vor zwei Tagen in einem zweistöckigen Haus eingerichtet worden ist: «Es fehlt an allem. Im Parterre ist ein Raum mit Verletzten, im ersten Stock sind zwei grössere Zimmer belegt, ein weiterer Raum ist ein Verbandszimmer. Es ist ein Lazarett ohne Operationssaal. Im Verbandszimmer wird all das gemacht, was gerade dringend notwendig ist. Das kleine Instrumentarium ist vorhanden, eine Amputation wäre also möglich, aber für eine Bauchöffnung würden verschiedene Instrumente fehlen. Es ist auch nur ein Arzt anwesend.»

Dann holt ihn die grausame Wirklichkeit ein. Er notiert: «Ich vernehme aus einem Zimmer ein eigenartiges Rufen und beeile mich nachzusehen, was fehlen könnte. Ich öffne die schiefe, in den Angeln hängende Tür und leuchte flüchtig über die dreissig Betten hinweg. Da, in einer Ecke winkt mir ein Arm. Ich gehe hin und frage so leise wie möglich, was denn sei. Ein riesiger Kopfverband hebt sich aus dem Kissen heraus, mit der Hand deutet der Verwundete in Richtung Mund. Dazu presst er unverständliche Laute hervor. Was mag wohl unter diesem Verband sein? Langsam löse ich die Gaze, und endlich kommt ein Loch zum Vorschein, das ich sofort als Rachen erkenne. Kein Kiefer, keine Zähne, eine grosse, klaffende Wunde. Immer wieder deutet er mit der Hand Richtung Mund und endlich begreife ich und schütte mit einer Schnabeltasse einzelne tropfen Tee in die Speiseröhre. Der Patient ist bald zufrieden und versucht wieder, einige Kehllaute von sich zu geben Ich deute dies als Dank, richte den Verband wieder zurecht und lege ihn bequem hin. Alle in diesem Zimmer sind Kopfverletzte mit den schrecklichsten Verstümmelungen, die es geben kann.»

Deutsche Truppen im Juni 1941 in Russland auf dem Vormarsch.
Deutsche Truppen im Juni 1941 in Russland auf dem Vormarsch.bild: imago-images.de

«Unser Lazarett ist voll belegt. Die Triage-Stelle weiss über jedes Bett Bescheid. Mit Sanitätswagen oder auf Lastwagen, die mit Stroh ausgepolstert sind, kommen die Verwundeten von den Verbandsplätzen zur Triage, werden kurz untersucht, im Bedarfsfall ausgeladen und zu uns oder in ein anderes Lazarett gebracht. Wenn es der Zustand erlaubt, geht der Transport gleich weiter rückwärts nach Roslawl, Smolensk oder gar Orscha. Die schweren Fälle werden bei uns operiert oder mit neuen Verbänden versehen und so transportfähig gemacht. Die Sanitätswagen sind mit vier Tragbaren versehen und transportieren meist Schwerverletzte. Nur die Kopfverletzten werden durch Flugzeuge direkt nach Deutschland geflogen.»

Am 7. November 1941 beginnt der Winter. «Erster Schnee seit unserer Anwesenheit in Juchnow. Es ist kalt geworden. Aber doch nicht kälter als bei uns zu Hause in einem normalen Winter.» Doch das ändert sich bald. Eintrag vom 17. November: «Aussentemperatur minus 27 Grad Celsius». Unter dem Datum des 26. Dezember lesen wir: «Das Wetter steht auf Sturm. Der Wind pfeift, die Temperaturen liegen zwischen 30 und 40 Grad minus.» Aber da ist Ernst Gerber schon nicht mehr in Juchnow.

Am 22. November 1941 folgt die Versetzung ins Lazarett von Roslawl, eine Stadt mit rund 50'000 Einwohnern, südöstlich von Smolensk. Etwas weiter im Westen und weniger nahe an der Front als Juchnow.

Eintrag vom 24. November 1941: «Bei einem neu eingelieferten Verwundeten mit total zertrümmertem Unterschenkel bleibt nur die Amputation. Ich kann die Teamarbeit von Doktor Molo, Doktor Weihnacht und den Schwestern bewundern. Es läuft so gut wie in einem Ops zu Hause. Schwester Ingrid narkotisiert, Schwester Gertrud richtet die Instrumente. Der Sani legt hoch am Oberschenkel den Gummischlau an und unterbindet die Blutzufuhr. Knapp unterhalb des Knies zieht Dr. Molo kräftig und exakt den Schnitt ums halbe Bein bis auf den Knochen. Ein zweiter Schnitt und schon ist die Knochensäge in Aktion. In wenigen Minuten ist das zerschossene Bein weg. Die Knochenränder werden etwas abgeraspelt, dann werden die Gefässe gefasst und abgebunden. Langsam löst der Sani den Gummischlauch. Ein grosser Salbenlappen kommt auf den Stumpf, ein Verband beschliesst die Arbeit. In wenigen Tagen wird dieser Verletzte transportfähig sein, aber in Warschau oder einem Heimlazarett in Deutschland wird er weitere Operationen über sich ergehen lassen müssen. Hier an der Front darf keine Wunde verschlossen werden. Wegen der unfehlbar eintretenden Infektion wäre es eine Gefährdung des Verletzten. Diese Amputation hat keine zehn Minuten gedauert.»

Die humanitären Zustände an der Ostfront waren katastrophal.
Die humanitären Zustände an der Ostfront waren katastrophal.bild: imago-images.de

Eintrag vom 13. Dezember 1941: «Immer mehr Arbeit. Wir krampfen bis zur Erschöpfung. Narkosen, Gipsverbände, Transfusionen, Verbandswechsel, Nachblutungen stillen, Amputationen. Kein Ende.» Unter dem Datum vom 14. Dezember 1941 lesen wir: «Erster Patient mit Strarrkrampf. Dr. Molo amputiert noch den Unterschenkel, aber es ist schon zu spät. Der Verletzte stirbt kurze Zeit danach.»

Die hygienischen Verhältnisse sind prekär. Ebenfalls unter dem Datum des 13. Dezembers lesen wir: «Zum Baden hatte ich heute keine Zeit. Ich muss mich mit einer gründlichen Läusejagd begnügen.»

Hin und wieder kriegt Ernst Gerber etwas vom Verlauf der Kämpfe mit. Am 25. Dezember 1941 schreibt er: «Arbeit und nochmals Arbeit bis spät abends. Truppen kommen aus Kaluga zurück in Ruhestellung. Sie haben schwerste Verluste erlitten. Russische Spähtruppen haben sich in der Nacht zum 18. Dezember in Kaluga eingeschlichen und am Morgen des 19. einen gut organisierten Überfall auf die nichtsahnenden Deutschen unternommen. Bei einer Sanitätskompanie gab es fünfunddreissig Tote und siebzig Verwundete. Kaluga konnte aber mit blutigen und schweren Verlusten auf beiden Seiten von den Deutschen gehalten werden. Jetzt wird langsam geräumt.» Kaluga, rund 150 Kilometer südwestlich von Moskau, ist eine Stadt mit über 300'000 Einwohnern. Sie wird von den Deutschen am 12. Oktober 1941 im Zuge der Schlacht um Moskau besetzt und von den Russen bereits am 30. Dezember 1941 wieder zurückerobert.

«Panzerschokolade» für den Krankenpfleger
Um die Strapazen durchzuhalten, wird Pervitin geschluckt. Ernst Gerber schreibt in seinem Tagebuch am 26. Dezember: «Erstmals haben wir Stuka-Pillen (Pervitin) geschluckt.» Unter dem Datum des 30. Dezembers vermerkt er: «Ein harter Tag mit Pervitin-Zuschuss geht wieder vorbei.» Eintrag vom 4. Januar 1942: «Die Tage gehen vorbei mit nunmehr kleinsten Arbeitspausen. Stuka Pillen sind gefragt und werden den ganzen Tag geschluckt. Unser Lazarett zählt jetzt sechshundert Verwundete in drei Baracken.» Und schliesslich eine Notiz unter dem Datum des 17. Januar 1942: «Wir arbeiten wie die Verrückten und schlucken alle vier Stunden Pervitin.»

Diese Tagebuchpassagen sind hoch interessant: Bei Pervitin handelt es sich um ein Rauschmittel (Methamphetamin), das dem körpereigenen Adrenalin ähnelt: Man ist nicht müde, sondern munter. Statt hungrig, fühlt man sich satt. Statt gestresst, euphorisch und selbstsicher. Das klingt ein bisschen nach Crystal Meth, der chemischen Droge von heute. Tatsächlich enthält Pervitin genau diese Substanz.

Ihre grosse «Premiere» hatte Crystal Meth also bereits im 2. Weltkrieg. Entwickelt wurde die Substanz schon Mitte der 1930er-Jahre in Pillenform vom deutschen Chemiker und Arzt Fritz Hauschild. 1938 brachte die Firma Temmler das Mittel unter dem Namen «Pervitin» auf den Markt, das sich schnell als Kassenschlager entpuppte – und zwar in verschiedensten Lebensbereichen. Nach erfolgreichen Testversuchen an Studenten im Prüfungsstress interessierte sich das Militär für den chemischen Stoff.

Das «Wachhaltemittel, um die Schlaflosigkeit zu erhalten», wie es auf der Packung hiess, war eine ideale Kriegsdroge. Bald fand sich Pervitin in jedem Tornister. Die scheinbar nimmermüden Soldaten konnten durch die Droge Tag und Nacht marschieren, ohne dass sie ihren Optimismus verloren oder Hunger und Müdigkeit verspürten. Die Aufputschpille, auch «Panzerschokolade» genannt, barg natürlich Risiken. Der chemische Muntermacher machte abhängig und die Nebenwirkungen waren verheerend: Schwindelanfälle, Schweissausbrüche, Wahnvorstellungen und Depressionen. Manche Soldaten erschossen sich in ihren Wahnvorstellungen selbst, andere starben an Herzversagen.

Auch nach dem Ende des Dritten Reichs findet sich Pervitin noch jahrzehntelang in den Armeebeständen in Ost wie West. Die Temmler-Werke beliefern die Bundeswehr bis in die 1970er und die DDR-Streitkräfte bis 1988 mit den «Muntermach-Pillen». Leistungssportler verwenden es als Dopingmittel. Als rezeptpflichtiges Medikament verschwindet Pervitin erst Ende der 1980er-Jahre vom Markt. Methamphetamin wird heute in Kristallform hergestellt, geschnupft, geraucht, gespritzt oder gegessen. Weil grössere Dosen konsumiert werden, sind die Nebenwirkungen noch stärker und auch sichtbarer als seinerzeit bei den Soldaten im Krieg: Crystal-Meth-Konsumenten magern extrem ab, bekommen Zahnausfall und zerstörte Schleimhäute, wuchernde Ekzeme auf der Haut und leiden an Nieren- oder Herzversagen.

Am 29. Dezember 1941 notiert Ernst Gerber: «Wir erreichen heute das Maximum an Leistungsfähigkeit in unserem Ops. Mit zehn Amputationen, zwölf grossen Gipsverbänden, zwei Pleurapunktionen und fünfzig Verbandswechseln jeder Grösse. Die Amputationen müssen wegen Erfrierungen dritten Grades gemacht werden. Es ist kein Wunder bei dieser Kälte und der Ausrüstung der Soldaten.» Was Ernst Gerber hier feststellt, stimmt: Die Soldaten der Wehrmacht kämpfen, weil ein rascher Sieg erwartet worden war, im tiefen russischen Winter immer noch in Sommerausrüstung. Zeitweise sind die Ausfälle durch Erfrierungen höher als durch feindliche Einwirkung.

Eintrag vom 2. Januar 1942: «Zwei Soldaten haben sich Erfrierungen im Zug, nicht im Feld geholt. Beide haben Erfrierungen mittleren Grades erlitten und waren doch erst einen halben Tag unterwegs. Dem einen müssen der linke Vorderfuss und am rechten Fuss die Zehen amputiert werden, den anderen geht es besser. Er kommt mit der Amputation von sechs Zehen weg.» Gräber müssen aus dem gefrorenen Boden herausgesprengt werden.

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bild: imago-images.de

Am 2. Januar 1942 merkt Ernst Gerber, dass sich das Blatt wendet: «Die Nervosität nimmt im ganzen Abschnitt Mitte zu. Man ist des Endsieges nicht mehr so sicher, denn erstmals in diesen drei Kriegsjahren geht es rückwärts. Hoffentlich kommen wir noch weg, bevor der Zusammenbruch erfolgt.»

Am 11. Januar 1941 lesen wir: «Die Lage ist mehr als kritisch. Ehrenwörtlich werden wir verpflichtet, niemandem etwas von der kritischen Lage zu sagen, damit im Lazarett keine Panik aufkommt. Dr. Molo meint, wenn wir nicht fortkommen, als Letztes für uns Schweizer eine Kugel in den Kopf besser wäre als eine Gefangennahme, denn als Ausländer hätten wir keine Sonderbehandlung zu erwarten. Im Gegenteil. Die Russen betrachten uns als freiwillige Helfer zur Unterstützung der Deutschen.» Am nächsten Tag beträgt die Aussentemperatur gemäss dem Tagebuch minus 40 Grad und am 15. Januar minus 48 Grad.

Ernst Gerber kommt rechtzeitig weg. Am 18. Januar 1942 beginnt die Rückreise. Von Jaroslawl erst nach Smolensk, dann weiter nach Warschau mit dem Zug. Am 24. Januar 1942 trifft die Mission in Warschau ein, zwei Tage später, am 26. Januar in Berlin. Am 29. Januar 1941 Ankunft in Zürich.

Eintrag vom 30. Januar 1942: «Abschiedsbankett. Mit tränenden Augen verabschiedet sich Oberstleutnant von Wyttenbach von allen Missionsteilnehmern und jeder geht seinen Weg. Müde, um Jahre gereift und gealtert nach diesen vier Monaten, aber mit viel Erfahrung komme ich glücklich wieder in die Heimat.»

Die Schweizer Santitätsdelegation bei ihrer Ankunft in Zürich im Januar 1942.
Die Schweizer Santitätsdelegation bei ihrer Ankunft in Zürich im Januar 1942.bild: keystone

Der Einsatz hat sich für Ernst Gerber gelohnt. Er ist gesund und unversehrt wieder nach Hause gekommen. Er hat pro Tag 10 Franken Sold bekommen. Das ist, wie er schreibt, dreimal mehr als sein Tageslohn im Spital. Dazu gratis eine Uniform und bezahlte Versicherung.

Ernst Gerber bilanziert 1969 rückblickend: «Es gab keine politischen Gespräche oder Sympathiekundgebungen mit den deutschen Kameraden. Kleine Sticheleien von deutscher Seite wurden im Keim erstickt oder mit der richtigen Antwort abgelehnt. Ich hatte jedenfalls nie Schwierigkeiten. Ich war zu dieser Zeit vom Rot-Kreuz-Gedanken überzeugt und habe mich auch entsprechend, wie viele andere Schweizerinnen und Schweizer eingesetzt. Meine an der Ostfront erworbenen Kenntnisse kamen später bei Dienstleistungen auch Schweizer Soldaten zugute. Als Spezialist wurde ich selbstverständlich dem Operationssaal zugeteilt. Meine Erfahrungen im Hochbetrieb eines Lazaretts kamen der ganzen chirurgischen Equipe zugute. Ich durfte die gleiche Narkose-Technik einführen, die ich so gut beherrschte, und wir brauchten nur noch die Hälfte der Narkose-Mittel, als vorher üblich war. Demzufolge habe ich mit der Teilnahme an der Ärztemission an die Ostfront drei Aufgaben erfüllt: die Ausübung des Rot-Kreuz-Gedankens im Krieg, die Auswertung des gelernten im Militärdienst für die Schweiz und die Weiterbildung in meinem Beruf als Krankenpfleger.»

Die letzte Eintragung über dieses Abenteuer am 31. Januar 1942: «Die letzte Laus habe ich zu Hause, eine Stunde nach meiner Ankunft, aus der Uniform gefischt und mit Lust ermordet. Dieses Abenteuer ist zu Ende.»

Ernst Gerber hat Weltgeschichte erlebt
Am 22. Juni 1941 löst das dritte Deutsche Reich den Krieg gegen die Sowjetunion aus. Trotz eines gültigen Nichtangriffsvertrages. Daraus entwickelt sich der grausamste und verlustreichste Krieg der Geschichte. Die genaue Zahl der Opfer ist nicht bekannt. Neuere Schätzungen gehen von bis zu 40 Millionen Todesopfer auf sowjetischer Seite aus – davon wohl 30 Millionen Zivilisten. Die deutsche Wehrmacht verlor gut 5 Millionen Soldaten.

Ernst Gerber war zwischen Ende Oktober 1941 und Anfang Januar 1942 am mittleren Abschnitt der Ostfront im Einsatz. In dieser Phase erlebte er den Vormarsch der deutschen Wehrmacht bis vor Moskau und die Anfangsphase der russischen Gegenoffensive Anfang Dezember. Diese Wochen gelten als Wendepunkt des 2. Weltkrieges. Ernst Gerber hat Weltgeschichte erlebt.

Nach der Vernichtung der 6. Armee in der Schlacht von Stalingrad (September 1942 bis Februar 1943) verlieren die Deutschen die Initiative an der ganzen Ostfront und nun geht es unaufhaltsam zurück. Anfang Mai 1945 erobern die Russen Berlin und am 8. Mai 1945 tritt die bedingungslose Kapitulation der Deutschen in Kraft.

Der 2. Weltkrieg ist in erster Linie an der Ostfront entschieden worden. Die Schweiz wahrte ihre Neutralität. Wobei Zyniker sagen, am Tage hätten die Schweizer für die Deutschen Waffen produziert und in der Nacht für den Sieg der Alliierten gebetet. Diese formelle Neutralität ermöglichte es unserer Armee, in Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz eine Ärztemission an die Ostfront zu schicken. Wenn wir das in die heutige Zeit übertragen, so wäre das ungefähr so, wie wenn unsere Armee eine Ärztemission aufseiten der Russen in den Krieg in der Ukraine entsenden würde.

Aus dem Monatsmagazin WURZEL.

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24 Kommentare
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bitzliz'alt
12.06.2022 18:13registriert Dezember 2020
Dieser Bericht wird der SVP gar nicht passen: er belegt, dass „Neutralität” kein verordnetes Nichtstun ist, sondern jeweils eine mutige, überlegte Entscheidung braucht - man nennt dies auch „Verantwortung übernehmen“ …
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Mutzli
13.06.2022 00:13registriert Dezember 2016
Sorry, humanitärer Einsatz in allen Ehren, aber Sachen wie "im Rückblick, im Wissen, wie alles gekommen ist, im Wissen auch um den verbrecherischen Krieg, den die Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion geführt haben, ist diese Kritik ungerecht und billig: Zum Zeitpunkt seines Hilfseinsatzes konnte Ernst Gerber das wahre Gesicht dieses Krieges nicht kennen. Nicht einmal unsere Regierung dürfte im Bilde gewesen sein"
das grenzt an Revisionismus. '41 war schon lange klar, was das NS-Regime war. KZs gab es seit '33 & waren bekannt, Judenstempel seit '38...auch die Schweizer Regierung wusste das.
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Überdimensionierte Riesenshrimps aka Reaper
12.06.2022 22:01registriert Juni 2016
Nun, ich bin nicht D'accord mit der Aussage das nicht einmal der Bundesrat wusste was vor sich ging.
Der Bundesrat wusste von NDB Agenten recht früh was hinter den Frontlinien mit Juden geschah.

Und es ist nicht so, das Hitler sein tun nicht lange vorher angekündigt hat.
Man hätte es schon dann Wissen können wenn man den nicht lieber die Augen verschlossen hätte.
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