Cold Case aus dem Mittelalter gelöst – es war Mord aus Rache
Am 3. Mai 1336 (oder 1337, je nach Quelle*) flanierte der Priester John Ford nach dem Abendgebet durch die Strassen von Westcheap, einem belebten Marktviertel im mittelalterlichen London. Dort näherte sich ihm Hascup Neville, ebenfalls Priester, und lenkte ihn mit einem netten Gespräch ab. Als die beiden die Foster Lane nahe der St. Pauls Cathedral erreichten, stürzten sich plötzlich vier Männer auf Ford. Einer schnitt ihm mit einem Dolch die Kehle durch, zwei andere stachen ihm ihre Messer in den Unterleib.
Der Mord – am helllichten Tag in Westcheap, unter den Augen zahlloser Passanten – blieb nahezu ungesühnt. Nur einer der Täter wurde am Ende angeklagt und verurteilt. Doch fast 700 Jahre nach der Bluttat hat ein Forschungsteam unter Leitung der Universität Cambridge das Geschehen analysiert und mittels zeitgenössischer Dokumente die Hintergründe des Mordes aufgeklärt. Die Analyse ist diesen Monat im Fachmagazin «Criminal Law Forum» erschienen.
Medieval Murder Maps
Der Cold Case des Mordopfers John Ford ist Teil des 2018 lancierten digitalen Kartenprojekts «Medieval Murder Maps», in dem Hunderte von Gewaltverbrechen im mittelalterlichen England aufgearbeitet werden. Zu den Städten London, York und Oxford gibt es jeweils interaktive Karten, die den Tod nutzen, um Leben in die mittelalterlichen Städte zu bringen, wie es der «Guardian» sinngemäss umschreibt.
Nachträglich Licht ins mittelalterliche Dunkel bringen die Kriminologen unter anderem mithilfe von Dokumenten, vornehmlich den sogenannten Coroners' Rolls. Ein Coroner amtete als Leichenbeschauer – er war gewissermassen der mittelalterliche Gerichtsmediziner – und hatte plötzliche oder unnatürliche Todesfälle zu untersuchen. In solchen Fällen stellten der Coroner und die Sheriffs eine Jury aus der lokalen Bevölkerung zusammen, die den Fall untersuchte. Diese Jurys konnten im Umfang von 12 bis zu etwa 50 Männern variieren.
Die Spur führt zu Ela Fitzpayne
Im Fall des ermordeten Priesters war die Jury bemerkenswert gross; sie umfasste 33 Personen – ein Hinweis darauf, dass die Obrigkeit diesen Mord ernst nahm. Drei Zeugen konnte die Jury befragen: Robert Russell, ein Rosenkranzmacher, William Newcomen und Michael Hatter, ein Hutmacher. Schnell war klar, wer die flüchtigen Täter waren, die Ford getötet hatten: Hugh Lovell, Hugh of Colne, John Strong und John of Tisdale. Drei dieser Männer verband eine Gemeinsamkeit: Sie standen in Beziehung zu einer gewissen Ela, einer Adligen aus Südwestengland und Frau von Sir Robert Fitzpayne. Lovell war ihr Bruder, Colne und Strong ehemalige Bedienstete.
Die Jury stellte zudem fest, dass zwischen Ela Fitzpayne und dem Mordopfer Ford eine langjährige Fehde bestanden hatte. Doch obwohl die Jury alle vier Täter namentlich benennen konnte und Fitzpayne als mögliche Auftraggeberin des Mords bekannt war, hatte dies für die Beteiligten vorerst keine Konsequenzen. Angeblich wusste niemand, wo sie sich aufhielten.
Beispiel für Standesjustiz
Manuel Eisner, Projektleiter der Medieval Murder Maps, bezweifelt dies: «Obwohl die Mörder namentlich genannt werden und der Anstifter klar bekannt ist, drücken die Geschworenen ein Auge zu, wenn es um die Verfolgung der Täter geht», erklärt Eisner in einer Mitteilung der Universität Cambridge. «Ein Haushalt von höchstem Adel, und offenbar weiss niemand, wo sie sind, um sie vor Gericht zu bringen. Sie behaupten, Elas Bruder habe keine Besitztümer, die sie beschlagnahmen könnten. Alles unplausibel.» Dies sei typisch für die Standesjustiz der damaligen Zeit gewesen, schreibt Eisner.
Es handle sich um einen Mord, der von einer führenden Figur des englischen Adels in Auftrag gegeben worden sei, führt Eisner weiter aus. «Er war geplant und kaltblütig – ausgeführt von einem Familienmitglied und engen Vertrauten, was stark auf ein Rachemotiv hindeutet.»
Eine Affäre endet in Schande
Das Motiv für den blutigen Racheakt fand Eisners Team in verschiedenen alten Dokumenten. Vier Jahre zuvor, im Januar 1332, hatte der Erzbischof von Canterbury, Simon Metham, Ela Fitzpayne öffentlich des Ehebruchs beschuldigt, «mit Rittern und anderen, unverheirateten und verheirateten, und sogar mit Geistlichen in heiligen Orden». Nur einen der angeblichen Liebhaber benannte Metham namentlich: John Ford, das spätere Opfer, damals Pfarrer in einem Dorf auf den Ländereien der Familie Fitzpayne in Dorset.
Als Busse für Fitzpayne verhängte der Erzbischof eine demütigende Strafe – jedenfalls für eine Frau ihres Standes: Sie wurde exkommuniziert, durfte keinen Schmuck mehr tragen und musste Geld an Klöster und an die Armen spenden. Sieben Jahre lang sollte sie zudem jeden Herbst barfuss durch die Kathedrale von Salisbury gehen und dabei eine vier Pfund schwere Kerze halten – ein regelrechter Gang der Schande. Fitzpayne hielt sich vermutlich nicht daran, dürfte aber fortan einen Groll gegen Ford gehegt haben, den sie wohl verdächtigte, dass er den Erzbischof über ihre Affären informiert hatte. Dass Ford seinerseits offenbar nicht bestraft wurde, dürfte diesen Groll nicht gemildert haben.
Ein weiteres Dokument aus dem Jahr 1322 offenbart zudem eine weitere Verbindung zwischen Fitzpayne und Ford. Sie, Ford und ihr Gatte Sir Fitzpayne hatten zusammen mit mehreren Komplizen ein Benediktinerkloster überfallen und Vieh gestohlen. Zehn Ochsen, 140 Schafe, 60 Lämmer und 30 Schweine hätten sie zum Schloss der Fitzpaynes getrieben, klagte der Prior des Klosters. Möglicherweise hatte Ford nach diesem Raubüberfall seine Affäre mit Fitzpayne unter dem Druck der Kirche gestanden. Nach dem Tod des Erzbischofs schlug die Edelfrau dann zurück.
Mittelalterlicher Mord-Hotspot
Das mutmasslich von ihr in Auftrag gegebene Attentat fand wohl nicht zufällig in Westcheap statt. Gemäss den Daten von Medieval Murder Maps war dieses Quartier «Londons wichtigster mittelalterlicher Mord-Hotspot». Zahlreiche Märkte, Tavernen und Schankwirtschaften sorgten für Betrieb, hinzu kamen Geschäfte, etwa der Goldschmiede und Sattler, die in mächtigen Zünften organisiert waren. Streitigkeiten zwischen Kaufleuten oder Handwerkern mündeten häufig in Gewalt, ebenso Revierkämpfe zwischen Lehrlingen unterschiedlicher Zünfte, die an moderne Bandenkriege gemahnen.
Zudem war Westcheap auch Schauplatz mehrerer vorsätzlicher Rachemorde wie jenem, der John Ford das Leben kostete. «Westcheap war ein Ort für die Zurschaustellung der bürgerlichen Justiz, wie der Pranger oder der Stock», stellt Eisner fest. Zugleich sei es ein Schauplatz öffentlicher Bestrafungsrituale gewesen – und dies scheine auch «aussergerichtliche Tötungen» umfasst zu haben.
Machtdemonstration des Adels
«Die Art und Weise, wie Ford am helllichten Tag vor einer Menschenmenge öffentlich hingerichtet wurde, ähnelt den politischen Morden, die wir heute in Ländern wie Russland oder Mexiko beobachten. Sie soll daran erinnern, wer die Kontrolle hat», erklärt Eisner. Der Mord mache so die Spannungen zwischen Kirche und Adel im England des 14. Jahrhunderts besonders deutlich. Der Adel habe den Klerus so seine Macht spüren lassen.
In der Tat verfolgte die Justiz Ela Fitzpayne nicht; sie kam ungeschoren davon, ebenso ihr Gatte. Mit ihm blieb sie bis zu dessen Tod 1354 verheiratet und erbte danach sein Vermögen. Lediglich Hugh of Colne, einer der Mörder und ehemaliger Bediensteter von Fitzpayne, wurde 1342 angeklagt und im Newgate-Gefängnis eingekerkert.
* In der Studie selber steht 1336, in der Mitteilung der Universität Cambridge dazu und im entsprechenden Eintrag in den Medieval Murder Maps jedoch 1337.