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Cold Case aus dem Mittelalter gelöst – es war Mord aus Rache

Mord im Mittelalter
Rache als Mordmotiv – im Mittelalter war das Leben oft kurz. Bild: University of Cambridge

Cold Case aus dem Mittelalter gelöst – es war Mord aus Rache

17.06.2025, 01:0917.06.2025, 17:10

Am 3. Mai 1336 (oder 1337, je nach Quelle*) flanierte der Priester John Ford nach dem Abendgebet durch die Strassen von Westcheap, einem belebten Marktviertel im mittelalterlichen London. Dort näherte sich ihm Hascup Neville, ebenfalls Priester, und lenkte ihn mit einem netten Gespräch ab. Als die beiden die Foster Lane nahe der St. Pauls Cathedral erreichten, stürzten sich plötzlich vier Männer auf Ford. Einer schnitt ihm mit einem Dolch die Kehle durch, zwei andere stachen ihm ihre Messer in den Unterleib.

Der Mord – am helllichten Tag in Westcheap, unter den Augen zahlloser Passanten – blieb nahezu ungesühnt. Nur einer der Täter wurde am Ende angeklagt und verurteilt. Doch fast 700 Jahre nach der Bluttat hat ein Forschungsteam unter Leitung der Universität Cambridge das Geschehen analysiert und mittels zeitgenössischer Dokumente die Hintergründe des Mordes aufgeklärt. Die Analyse ist diesen Monat im Fachmagazin «Criminal Law Forum» erschienen.

Mord an John Ford in Westcheap, 1336/1337.
https://medievalmurdermap.co.uk/maps/london/?t=%5B%22homicide%22%5D
John Ford wurde in Westcheap ermordet, unweit der St. Pauls Cathedral.Screenshot: Medieval Murder Maps

Medieval Murder Maps

Der Cold Case des Mordopfers John Ford ist Teil des 2018 lancierten digitalen Kartenprojekts «Medieval Murder Maps», in dem Hunderte von Gewaltverbrechen im mittelalterlichen England aufgearbeitet werden. Zu den Städten London, York und Oxford gibt es jeweils interaktive Karten, die den Tod nutzen, um Leben in die mittelalterlichen Städte zu bringen, wie es der «Guardian» sinngemäss umschreibt.

Nachträglich Licht ins mittelalterliche Dunkel bringen die Kriminologen unter anderem mithilfe von Dokumenten, vornehmlich den sogenannten Coroners' Rolls. Ein Coroner amtete als Leichenbeschauer – er war gewissermassen der mittelalterliche Gerichtsmediziner – und hatte plötzliche oder unnatürliche Todesfälle zu untersuchen. In solchen Fällen stellten der Coroner und die Sheriffs eine Jury aus der lokalen Bevölkerung zusammen, die den Fall untersuchte. Diese Jurys konnten im Umfang von 12 bis zu etwa 50 Männern variieren.

The image of the original Coroner’s Report of John Forde’s murder.
Coroners' Roll zum Mord an John Ford. Bild: The London Archives

Die Spur führt zu Ela Fitzpayne

Im Fall des ermordeten Priesters war die Jury bemerkenswert gross; sie umfasste 33 Personen – ein Hinweis darauf, dass die Obrigkeit diesen Mord ernst nahm. Drei Zeugen konnte die Jury befragen: Robert Russell, ein Rosenkranzmacher, William Newcomen und Michael Hatter, ein Hutmacher. Schnell war klar, wer die flüchtigen Täter waren, die Ford getötet hatten: Hugh Lovell, Hugh of Colne, John Strong und John of Tisdale. Drei dieser Männer verband eine Gemeinsamkeit: Sie standen in Beziehung zu einer gewissen Ela, einer Adligen aus Südwestengland und Frau von Sir Robert Fitzpayne. Lovell war ihr Bruder, Colne und Strong ehemalige Bedienstete.

London im 15. Jahrhundert.
A depiction of the imprisonment of Charles, Duke of Orléans, in the Tower of London from a 15th-century manuscript. The White Tower is visible, St Thomas' Tower (also k ...
London im 15. Jahrhundert.Bild: Wikimedia

Die Jury stellte zudem fest, dass zwischen Ela Fitzpayne und dem Mordopfer Ford eine langjährige Fehde bestanden hatte. Doch obwohl die Jury alle vier Täter namentlich benennen konnte und Fitzpayne als mögliche Auftraggeberin des Mords bekannt war, hatte dies für die Beteiligten vorerst keine Konsequenzen. Angeblich wusste niemand, wo sie sich aufhielten.

Beispiel für Standesjustiz

Manuel Eisner, Projektleiter der Medieval Murder Maps, bezweifelt dies: «Obwohl die Mörder namentlich genannt werden und der Anstifter klar bekannt ist, drücken die Geschworenen ein Auge zu, wenn es um die Verfolgung der Täter geht», erklärt Eisner in einer Mitteilung der Universität Cambridge. «Ein Haushalt von höchstem Adel, und offenbar weiss niemand, wo sie sind, um sie vor Gericht zu bringen. Sie behaupten, Elas Bruder habe keine Besitztümer, die sie beschlagnahmen könnten. Alles unplausibel.» Dies sei typisch für die Standesjustiz der damaligen Zeit gewesen, schreibt Eisner.

Es handle sich um einen Mord, der von einer führenden Figur des englischen Adels in Auftrag gegeben worden sei, führt Eisner weiter aus. «Er war geplant und kaltblütig – ausgeführt von einem Familienmitglied und engen Vertrauten, was stark auf ein Rachemotiv hindeutet.»

Eine Affäre endet in Schande

Das Motiv für den blutigen Racheakt fand Eisners Team in verschiedenen alten Dokumenten. Vier Jahre zuvor, im Januar 1332, hatte der Erzbischof von Canterbury, Simon Metham, Ela Fitzpayne öffentlich des Ehebruchs beschuldigt, «mit Rittern und anderen, unverheirateten und verheirateten, und sogar mit Geistlichen in heiligen Orden». Nur einen der angeblichen Liebhaber benannte Metham namentlich: John Ford, das spätere Opfer, damals Pfarrer in einem Dorf auf den Ländereien der Familie Fitzpayne in Dorset.

The first of the Archbishop’s letters. Register of John de Stratford.
Der erste Brief des Erzbischofs. Bild: Hampshire Archives/Hampshire County Council

Als Busse für Fitzpayne verhängte der Erzbischof eine demütigende Strafe – jedenfalls für eine Frau ihres Standes: Sie wurde exkommuniziert, durfte keinen Schmuck mehr tragen und musste Geld an Klöster und an die Armen spenden. Sieben Jahre lang sollte sie zudem jeden Herbst barfuss durch die Kathedrale von Salisbury gehen und dabei eine vier Pfund schwere Kerze halten – ein regelrechter Gang der Schande. Fitzpayne hielt sich vermutlich nicht daran, dürfte aber fortan einen Groll gegen Ford gehegt haben, den sie wohl verdächtigte, dass er den Erzbischof über ihre Affären informiert hatte. Dass Ford seinerseits offenbar nicht bestraft wurde, dürfte diesen Groll nicht gemildert haben.

A detail from an illuminated manuscript depicting a medieval monk seducing a nun, who becomes pregnant and has an illegitimate baby. She then disposes of the baby in the privy (toilet). From the Mirac ...
Das Detail aus dem illustrierten Manuskript «Miracles de Notre Dame» zeigt links einen Mönch, der eine Nonne verführt. Das aus der verbotenen Beziehung geborene Baby «entsorgt» sie in der rechten Bildhälfte im Abort.Bild: Reddit

Ein weiteres Dokument aus dem Jahr 1322 offenbart zudem eine weitere Verbindung zwischen Fitzpayne und Ford. Sie, Ford und ihr Gatte Sir Fitzpayne hatten zusammen mit mehreren Komplizen ein Benediktinerkloster überfallen und Vieh gestohlen. Zehn Ochsen, 140 Schafe, 60 Lämmer und 30 Schweine hätten sie zum Schloss der Fitzpaynes getrieben, klagte der Prior des Klosters. Möglicherweise hatte Ford nach diesem Raubüberfall seine Affäre mit Fitzpayne unter dem Druck der Kirche gestanden. Nach dem Tod des Erzbischofs schlug die Edelfrau dann zurück.

Klage des Priors des von John Ford, Ela Fitzpayne und anderen überfallenen Klosters.
Der Prior des überfallenen Klosters listete die durch den Raubüberfall entstandenen Verluste auf. Bild: Calendar of Patent Rolls, Edward III: Volume 2, 1330-1334. 6 Edward III, membrane 21d, 8 March 1332

Mittelalterlicher Mord-Hotspot

Das mutmasslich von ihr in Auftrag gegebene Attentat fand wohl nicht zufällig in Westcheap statt. Gemäss den Daten von Medieval Murder Maps war dieses Quartier «Londons wichtigster mittelalterlicher Mord-Hotspot». Zahlreiche Märkte, Tavernen und Schankwirtschaften sorgten für Betrieb, hinzu kamen Geschäfte, etwa der Goldschmiede und Sattler, die in mächtigen Zünften organisiert waren. Streitigkeiten zwischen Kaufleuten oder Handwerkern mündeten häufig in Gewalt, ebenso Revierkämpfe zwischen Lehrlingen unterschiedlicher Zünfte, die an moderne Bandenkriege gemahnen.

Medieval Murder Maps: Contour map of homicide density, London, 1350-1398.
https://link.springer.com/article/10.1007/s10609-025-09512-7/figures/3
Morddichte in London, 1350–1398. Westcheap ist der Brennpunkt links, an dem sich die Einträge stark häufen. Karte: Criminal Law Forum

Zudem war Westcheap auch Schauplatz mehrerer vorsätzlicher Rachemorde wie jenem, der John Ford das Leben kostete. «Westcheap war ein Ort für die Zurschaustellung der bürgerlichen Justiz, wie der Pranger oder der Stock», stellt Eisner fest. Zugleich sei es ein Schauplatz öffentlicher Bestrafungsrituale gewesen – und dies scheine auch «aussergerichtliche Tötungen» umfasst zu haben.

Machtdemonstration des Adels

«Die Art und Weise, wie Ford am helllichten Tag vor einer Menschenmenge öffentlich hingerichtet wurde, ähnelt den politischen Morden, die wir heute in Ländern wie Russland oder Mexiko beobachten. Sie soll daran erinnern, wer die Kontrolle hat», erklärt Eisner. Der Mord mache so die Spannungen zwischen Kirche und Adel im England des 14. Jahrhunderts besonders deutlich. Der Adel habe den Klerus so seine Macht spüren lassen.

In der Tat verfolgte die Justiz Ela Fitzpayne nicht; sie kam ungeschoren davon, ebenso ihr Gatte. Mit ihm blieb sie bis zu dessen Tod 1354 verheiratet und erbte danach sein Vermögen. Lediglich Hugh of Colne, einer der Mörder und ehemaliger Bediensteter von Fitzpayne, wurde 1342 angeklagt und im Newgate-Gefängnis eingekerkert.

Das alte Newgate-Gefängnis, das im 18. Jahrhundert durch einen Neubau ersetzt wurde.
https://de.wikipedia.org/wiki/Newgate-Gef%C3%A4ngnis#/media/Datei:Old_Newgate.jpg
Das alte Newgate-Gefängnis, das im 18. Jahrhundert einem Neubau weichen musste. Bild: Wikimedia

* In der Studie selber steht 1336, in der Mitteilung der Universität Cambridge dazu und im entsprechenden Eintrag in den Medieval Murder Maps jedoch 1337.

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19 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Snowy
15.06.2025 20:44registriert April 2016
Ach, das Mittelalter.
Macht es einem grad wieder etwas einfacher das Jahr 2025 zu ertragen.
774
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Mia_san_mia
15.06.2025 22:03registriert Januar 2014
Ich liebe solche Artikel 👍🏻👍🏻👍🏻
500
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Coffeetime ☕
15.06.2025 21:51registriert Dezember 2018
Spannend! 👍🏻
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