31 Kisten haben Schneeforscher Martin Schneebeli und sein Team gepackt. In Davos, bei sommerlichen Temperaturen. Wenn sie ihre Messgeräte und Ersatzteile wieder aus den Kisten herausheben, wird es klirrend kalt sein.
Die Wissenschafter des WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung stehen dann auf dem Deck eines Schiffes, das in Richtung Nordpol steuert. «Polarstern» heisst es und ist das vorübergehende Zuhause für Hunderte von Forscherinnen und Forschern aus 17 Ländern.
Wohin sie die Reise exakt führt, wissen sie nicht. In der zentralen Arktis steuert nicht der Kapitän das Schiff, das driftende Eis gibt den Kurs vor. Die Crew der «Polarstern» tut, was andere mit allen Mitteln vermeiden: Sie lassen das Schiff einfrieren und mit dem Packeis durch die Arktis schieben.
Nach gut einem Jahr, zwischen Grönland und Spitzbergen, übernimmt der Kapitän wieder das Steuer. Dort soll das Schiff aus dem Eis ausbrechen.
«Mosaic» heisst diese spektakuläre Forschungsfahrt – kurz für «Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate». Sie ist die bislang grösste Expedition in die zentrale Arktis und wird vom deutschen Alfred-Wegener-Institut geleitet. Das Ziel: die Auswirkungen des Klimawandels besser zu verstehen und einzuschätzen.
Keine andere Region der Welt erwärmt sich schneller als die Arktis. Das hat Folgen für das gesamte Wettersystem von Europa, Asien und Nordamerika. «Obwohl das Gebiet eine zentrale Rolle im Klimawandel spielt, wissen wir sehr wenig darüber», sagt Schneebeli.
So sei etwa unklar, wie stark sich die durchschnittliche Lufttemperatur bis ins Jahr 2100 verändere. «Die Prognosen unterscheiden sich bis zu acht Grad», sagt er. Das soll sich durch die 120 Millionen Euro teure Expedition ändern.
Wer in der Arktis unter freiem Himmel forscht, muss sich auf extreme Bedingungen einstellen. Über Monate hinweg ist es stockdunkel. Und die Temperaturen fallen bis minus 45 Grad Celsius.
Das Team von Schneebeli hat die Geräte deshalb in Alaska, in Finnland und im Kältelabor getestet und nachgebessert. Um körperlich besonders fit zu sein, trainiert der Schneeforscher an Langstreckenrennen. Eben erst hat er an einem 17-Stunden-Lauf teilgenommen.
Diese Woche hat Martin Schneebeli zudem in einem Seemannskurs gelernt, wie Rettungsboote ins Wasser gelassen werden oder ein Brand auf dem Schiff gelöscht wird. Der Kurs ist Vorschrift für alle Expeditionsteilnehmer, ebenso jener zum Umgang mit Eisbären.
«Sollten wir den Tieren begegnen, wissen wir nun, wie wir sie mit Leuchtpetarden vertreiben oder im Notfall erschiessen müssen», sagt Schneebeli. Zwar schützen sechs Eisbärenwächter das Schiff und die Forscher. Dennoch seien die Tiere eine der grossen Unbekannten, sagt er.
Geforscht wird nicht nur auf und um das Schiff. Vielmehr bauen die Wissenschafter rundherum Messstationen auf. Einige liegen bis zu 50 Kilometer von der «Polarstern» entfernt. Dies ist notwendig, um abseits der Schiffsabgase Daten zu erheben. Obwohl die «Polarstern» eingefroren ist, laufen ihre Motoren rund um die Uhr.
Um das 118 Meter lange und 25 Meter breite Schiff mit Strom zu versorgen und zu heizen, braucht es täglich 15 Tonnen Diesel. Auf ein Jahr hochgerechnet ist das weitaus mehr, als die «Polarstern» transportieren kann.
Für den Nachschub sorgen Eisbrecher. Viermal kämpfen sie sich zum eingefrorenen Schiff vor, bringen Treibstoff und Lebensmittel. Gleichzeitig reisen Wissenschafter und Crewmitglieder an respektive ab.
«Von einigen Ausnahmen abgesehen, tauschen wir alle zwei Monate die 100 Personen an Bord aus», sagt Uwe Nixdorf. Der stellvertretende Leiter am Alfred-Wegener-Institut ist für die Logistik der Expedition zuständig. Seit 2016 plant er sie im Detail. Die Idee dafür sei jedoch vor fast zehn Jahr entstanden, sagt er.
Für ihre eigene Forschung haben die Wissenschafter einen Tag pro Woche Zeit, ansonsten arbeiten sie interdisziplinär und in Teams. Sie untersuchen den Ozean, Eis und Schnee, die Atmosphäre und die biochemischen Prozesse des arktischen Lebens.
Martin Schneebeli nimmt an der zweiten Etappe der Forschungsfahrt teil. Sein Team untersucht unter anderem die Struktur des Schnees und des Meereises. Das sei für die Klimaforschung wichtig, weil je nach Wärmeleitfähigkeit oder Luftdurchlässigkeit das Eis schneller wächst respektive schmilzt, sagt er.
Mit ihm wird auch der Schweizer Umweltwissenschafter Ivo Beck auf der «Polarstern» ankommen. Der Doktorand am Paul-Scherrer-Institut baut momentan noch an dessen Expeditionslabor.
Platz für die 15 Messgeräte bietet ein einziger Container, der auf dem Vorderdeck des Schiffs platziert und der Arbeitsplatz der Schweizer Atmosphärenwissenschafter sein wird. Sie untersuchen Aerosole – feste oder flüssige Partikel, die in der Luft schweben. Diese wirken auf das Klima ein, indem sie Sonnenlicht reflektieren oder die Wolkenbildung beeinflussen.
Um sie an Bord zu analysieren, wird arktische Luft durch kaminähnliche Einlässe zu den Messgeräten im Container gesaugt. «Da die Geräte permanent messen, wird es Abnützungserscheinungen geben», sagt Beck. Es sei daher eine logistische Herausforderung, ein Jahr lang für alle Fälle vorbereitet zu sein, um stets Ersatzteile zur Hand zu haben.
Rund 300 Menschen arbeiten im Hintergrund für die Mosaic-Expedition. Dabei mussten sie immer wieder neue Probleme lösen. Im Frühling ist das Eis beispielsweise zu dick, um die Versorgung mit Eisbrechern organisieren zu können. Ein Flugzeug ist dann im Einsatz. Nur: Wo landet es?
«Das Meereis bewegt sich ständig, es bricht auseinander, und seine Fragmente schieben sich übereinander. Dabei entstehen sogenannte Presseisrücken. Die sind pickelhart und uneben», sagt Logistik-Chef Uwe Nixdorf.
Damit ein Flugzeug landen kann, braucht es aber eine 1.1 Kilometer lange und flache Landebahn auf dem Eis. «Um diese zu bauen, haben wir Pistenbullys an Bord, die mit speziellen Fräsen ausgestattet sind», sagt Nixdorf.
Neben Crewmitgliedern, die ein Boot steuern und Flugpisten bauen können, reisen auch Köche, ein Schiffsarzt und eine Pflegefachfrau mit. Das medizinische Personal verfügt über eine chirurgische Ausbildung. «Bei einer früheren Expedition in die Antarktis war bereits einmal eine Blinddarmoperation notwendig. Das hat gut geklappt», sagt Nixdorf.
Wenn jemand notfallmässig ausgeflogen werden muss, starten je nach Standort des Schiffes Langstreckenhelikopter oder kleine Spezialflugzeuge mit Ski.
«Dass die Expedition stattfindet, ist nur möglich, weil sich so viele Nationen daran beteiligen», sagt Nixdorf. Darunter auch Russland, China oder die USA. Länder also, die sonst geopolitische Interessen in der Arktis verfolgen. Bei der Mosaic-Expedition, sagt Nixdorf, «funktioniert die Zusammenarbeit fantastisch».
Ihren Heimathafen im deutschen Bremerhaven hat die «Polarstern» bereits verlassen. Sie ist unterwegs nach Tromsø in Norwegen. Dort wird ein Kran den Container mit dem Schweizer Forschungslabor an Bord wuchten, und auch die 31 Kisten aus Davos nehmen Kurs in Richtung Arktis auf.
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