Bis Mittwoch waren es 65. Jetzt sind es noch 5. Gemeint ist die Zahl der Länder, die vom Bund ganz oder teilweise als Risikogebiet eingestuft werden. Die aktualisierte Liste zeigt überdeutlich, wie sehr sich die Corona-Lage in der Schweiz in den letzten Tagen und Wochen verschärft hat. Selbst im globalen Vergleich stehen wir heute ganz schlecht da.
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Und ein Ende des Negativtrends ist nicht in Sicht. Die Zahl der positiven Corona-Fälle hat sich innert Wochenfrist erneut verdoppelt, und auch die Zahl der Hospitalisierungen nahm zuletzt stark zu. Oberfeldarzt Andreas Stettbacher warnte am Dienstag vor den Medien, die Betten auf den Intensivstationen «reichen noch für 10 bis 14 Tage».
Dabei sah es im Frühsommer nach dem überstandenen Lockdown so gut aus. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen bewegte sich im tiefen zweistelligen Bereich. «Mr. Corona» Daniel Koch verabschiedete sich frohen Mutes in die Pensionierung. Es folgte ein Sommer, in dem die Pandemie weit weg schien. Manche meinten, es habe sie nie gegeben.
Dabei zeigten die Fallzahlen seit Ende Juni langsam nach oben. Der Bundesrat verordnete deshalb an seiner letzten Sitzung vor den Sommerferien eine Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr. Als die Kurve in der zweiten Septemberhälfte kurzzeitig sank, schien es einmal mehr, als habe die Schweiz es besser gemacht als andere Länder.
Es war ein verhängnisvoller Trugschluss, wie man nun weiss. Wie konnte es dazu kommen? Warum liess die Schweiz eine solche Eskalation zu, obwohl Experten seit Monaten vor diesem Szenario gewarnt hatten? Versagt haben letztlich so gut wie alle:
Vieles deutet darauf hin, dass der Bundesrat im März gerade noch die Kurve gekriegt hat, als er die ausserordentliche Lage ausrief und den Lockdown – oder Shutdown – verfügte. Im Kantonsspital Genf war man 48 Stunden von der Katastrophe entfernt. Zweifelhaft war hingegen die Kommunikation von Bundesrat und Bundesamt für Gesundheit (BAG).
Das begann mit der Behauptung, Masken würden nichts bringen. Auch später leistete sich das BAG einige Schnitzer. Gesundheitsminister Alain Berset war ebenfalls nicht über alle Zweifel erhaben. «Wir können Corona», sagte er Ende Mai vollmundig. Bereits zuvor hatte er bei den ersten grösseren Lockerungen gesagt, wir könnten «ein bisschen cooler werden».
Zwar hat Berset immer zu Vorsicht gemahnt, aber hängen bleiben vor allem solche Schlagworte. Überhaupt, die Lockerungen: Der Bund war viel zu ambitioniert. Mit der Zulassung von Grossevents in Kultur, Sport und Unterhaltung hat er den Veranstaltern und ihren Angestellten statt Planungssicherheit einen Scherbenhaufen beschert.
Keine überzeugende Rolle spielte zuletzt auch die Corona-Taskforce. Ihre Mitglieder kommunizierten offensiv und teilweise widersprüchlich. Das ist auch ein Führungsproblem: Auf den kantigen Matthias Egger folgte der Basler Molekularbiologe Martin Ackermann, bei dem man stets den Eindruck hat, er wolle auf keinen Fall etwas falsch machen.
«Der Föderalismus ist sehr krisentauglich», sagte der Bündner Regierungsrat Christian Rathgeb (FDP) am 17. Oktober in der «Samstagsrundschau» von Radio SRF. Unter den vielen dummen Behauptungen in der Coronakrise ist dies wohl eine der allerdümmsten. Zumal sie vom Präsidenten der Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) stammt.
Als «oberster Regierungsrat» der Schweiz verkörpert Rathgeb das Versagen der Kantone, die seit der Rückkehr in die «besondere Lage» im Juni in erster Linie für die Bekämpfung der Pandemie zuständig wären. Und die mit dieser Aufgabe überfordert waren. Sie versäumten es im Sommer, genügend Kapazitäten für Tests und Contact Tracing bereitzustellen.
Auf die Untätigkeit folgte in den letzten Tagen und Wochen ein hektischer Aktionismus mit einem Wirrwarr an Massnahmen. Das Contact Tracing funktioniert faktisch nicht mehr (von einem «Getriebeschaden» sprach der oberste Kantonsarzt Rudolf Hauri am letzten Freitag). Auch die Spitäler und das Personal liess man naiv in die zweite Welle laufen.
«Viele Regierungen hören eher auf den kantonalen Gewerbeverband als auf den eigenen Gesundheitsdirektor», sagte ein «Insider» den Tamedia-Zeitungen. Die Nähe zur Wirtschaft ist hoch, also scheut man die Verantwortung für unpopuläre Massnahmen und schiebt sie lieber auf den Bund ab. Und die Folgekosten soll er am besten auch übernehmen.
Man kann es den von Corona stark betroffenen Branchen wie der Gastronomie nicht verübeln, dass sie den Sommer genutzt haben, um die Verluste des Frühjahrs so gut wie möglich wettzumachen. Und dass sie Planungssicherheit wünschen. In einer Pandemie ist das ein frommer Wunsch, umso mehr erstaunt die verbreitete Blauäugigkeit.
«Das Gastgewerbe steht kurz vor einem Kollaps», polterte Gastrosuisse-Präsident Casimir Platzer am Dienstag. Viele Betriebe haben mit ihrer Nachlässigkeit dazu beigetragen. Im Kanton Zürich müssten die Gäste seit Ende August ihre Kontaktdaten angeben. Ob sie das tun, wird kaum geprüft, wie ich bei meinen Restaurant-Besuchen feststellen musste.
Schutzkonzepte sind nichts wert, wenn sie nicht konsequent umgesetzt werden. Sonst leidet das Vertrauen der Kundschaft, sie bleibt im Zweifelsfall weg. Die meisten Ansteckungen fänden im privaten Bereich statt, wird gerne argumentiert. Aber von irgendwo muss das Virus dorthin gekommen sein. Es flattert nicht einfach durch die Luft.
Wir sind Corona-müde und wollen zurück zur Normalität. Deshalb lässt die Disziplin nach, wir verhalten uns sorgloser. Hinzu kommt eine gewisse Selbstüberschätzung. Haben wir das im Frühling nicht toll gemacht? Wir Schweizer sind doch «Siebesieche»! Dieses Gefühl wird durch die Tatsache verstärkt, dass wir von den grossen Katastrophen der jüngeren Geschichte verschont wurden.
Die Deutschschweizer sind besonders anfällig für derartiges Eigenlob. Es hilft deshalb wenig, dass gerade wir im Frühjahr weitgehend verschont blieben (von den Romands und Tessinern kann man das nicht behaupten – oder haben wir Ostern schon vergessen?). Die Konsequenz sind Superspreader-Events wie die berüchtigte Hochzeit in Schwellbrunn (AR).
Manch einer rauft sich deshalb die Haare und fragt sich, wo die vielgerühmte Eigenverantwortung bleibt. Die aber funktioniert am besten, wenn wir eine soziale Stigmatisierung befürchten (weshalb viele auch dann nicht aufs Sozialamt gehen, wenn sie Anrecht darauf hätten). Oder wenn ein Vorteil vor allem materieller Art winkt.
In einer Pandemie besteht der Vorteil vor allem für das Kollektiv (oder die Gesellschaft). Für das Individuum hingegen bringt die Eigenverantwortung in erster Linie Einschränkungen und Nachteile: Homeoffice ohne Austausch mit den Kollegen, Stress in der Familie, ein eingeschränktes Sozialleben, weniger Spass und Zerstreuung.
Eine Gruppe muss man jedoch loben. Ausgerechnet die Jungen verhalten sich diszipliniert, obwohl gerade sie auf vieles verzichten müssen. In einer deutschen Umfrage spricht sich die Generation der 15- bis 25-Jährigen viel deutlicher für die Schliessung von Restaurants, Bars und Clubs aus als die älteren Semester.
Die Jungen seien bereit, individuelle Bedürfnisse für die Allgemeinheit kurzzeitig zurückzustellen, sagte Studienleiter Rüdiger Maas gegenüber CH Media. Den Älteren fällt dieser Verzicht offensichtlich schwerer. Auch aus diesem Grund ist man skeptisch, ob der vom Bundesrat am Mittwoch verfügte «Slowdown» die Trendwende bewirken wird.
Denn einen Vorteil hatte der Lockdown im März und April: Es wurde draussen heller, man sah buchstäblich Licht am Horizont. Jetzt wird es bis Ende Jahr immer dunkler, und seit Sonntag erst noch eine Stunde früher. Und die Massnahmen des Bundesrats gelten unbefristet – womöglich bis in den Frühling oder zur nächsten Verschärfung.
Ich vermisse aber generell einen lösungsorientierten Ansatz im gesellschaftlichen Diskurs. Was können wir besser machen? Was würde die Eigenverantwortung fördern statt behindern? Wie holt man alle mit ins Boot? Wie fühlen sich die Menschen mit Ihren Meinungen nicht ausgegrenzt? Wie werden alle Anspruchsgruppen gehört? Warum müssen alle auf etwas verzichten?
Diese Fragen zu beantworten wäre zurzeit konstruktiver als die Schuldfrage zu stellen und somit weiter die Spaltung voranzutreiben!