In der Theorie funktioniert es so: Richterinnen werden nach Parteistärken gewählt, damit alle Werte an den Gerichten demokratisch gerecht vertreten sind. Sobald ein Richter im Amt ist, soll die Partei aber keine Rolle mehr spielen. Richter, die Parteimitglieder sind, stellen eine Schweizer Besonderheit dar. Eine weitere ist: Jeweils nach sechs Jahren finden Gesamterneuerungswahlen des Bundesgerichts statt. Internationaler Standard sind längere, einmalige Amtszeiten. In der Schweiz hingegen kommt es in kurzen Abständen immer wieder zu politischen Intermezzi, die aber die Rechtsprechung nicht beeinflussen sollen – in der Theorie.
Durch Einzelfälle wie die Wiederwahl von SVP-Bundesrichter Yves Donzallaz erhält dieses ideale Bild der Schweizer Justiz Risse. Doch lässt sich der Einfluss der Politik auf die Rechtsprechung auch empirisch nachweisen? In der Schweiz gab es bisher erst zwei Forschungsarbeiten, die sich damit beschäftigt haben. Sie kamen zu keinen klaren Ergebnissen. Die Schwierigkeit dabei war, wie sich der Einfluss überhaupt messen lässt.
Der Luzerner Bundesrichter Thomas Stadelmann (Die Mitte) wollte es genau wissen. Er stiess bei seinen Recherchen auf einen norwegischen Forscher, der die gleiche Fragestellung am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte untersucht. Stadelmann ging mit dem norwegischen Juristen eine Kooperation ein. Zusammen schrieben sie einen Beitrag für eine juristische Fachpublikation, die am 1. November, vier Wochen vor der Abstimmung über die Justizinitiative erscheinen wird. Der Text liegt der CH-Media-Redaktion vor.
Der Europäische Gerichtshof eignet sich wegen einer speziellen Konstellation als Anschauungsbeispiel. Im Jahr 2010 wurden die Amtszeiten der Richter mit sofortiger Wirkung von sechs auf neun Jahre verlängert. Gleichzeitig wurden die Wiederwahlen abgeschafft. Es wurden also einmalige Amtszeiten eingeführt, wie sie die Justizinitiative fordert.
Die Reform wurde schon lange diskutiert. Eingeführt wurde sie aber überraschend. Blockiert wurde der Systemwechsel nämlich jahrelang von einem Veto aus Russland. Dann gaben die Russen im Jahr 2010 plötzlich doch ihr Jawort, worauf die Umstellung sofort erfolgte. Für die Richter war der Wechsel also nicht absehbar. Das ist für die Studie wichtig, weil sich damit der mögliche Einfluss der Reform zeitlich festlegen lässt. Der Bruch führte zu einem Vorher und einem Nachher, das sich vergleichen lässt.
Die statistische Analyse zeigt, dass die Richter vor der Reform dazu neigten, den Staat, der sie ernannte, in ihrer Rechtsprechung zu bevorzugen. Diese Tendenz wurde dann durch die nicht mehr verlängerbaren Amtszeiten verringert. Die Richter hatten also weniger Angst, ihren Ernennungsstaat zu enttäuschen und damit ihre Wiederwahl zu gefährden. Die Reform hat somit ihren Zweck erfüllt. Sie hat die richterliche Unabhängigkeit gestärkt.
Allerdings gibt es Unterschiede. Richter mit diplomatischem oder bürokratischem Hintergrund neigten auch nach der Reform stärker dazu, ihren Ernennungsstaat weiterhin zu bevorzugen, als Richter mit akademischem oder privatwirtschaftlichem Hintergrund. Das liegt wohl daran, dass die erste Gruppe auch nach ihrer Laufbahn am Europäischen Gerichtshof auf die Gunst ihrer Regierung angewiesen ist.
Ein weiterer Unterschied zeigt sich zwischen jungen Richtern und älteren, die kurz vor der Pensionierung stehen. Die älteren passten ihre Rechtsprechung nicht an. Sie waren ohnehin nicht mehr auf eine Wiederwahl angewiesen. Jüngere hingegen wurden nach der Reform mutiger, in Urteilen ihren Heimatstaat zu rügen. Mit der Reform wurden sie unabhängiger.
Bundesrichter Stadelmann leitet daraus für die Schweiz folgendes Fazit ab:
Die Forschung zeige, dass Wiederwahlen in kurzen Abständen nicht nur den Anschein erwecken, dass die Richterinnen und Richter nicht unabhängig von Überlegungen zu ihren Wiederwahlchancen Recht sprechen würden. Die ausgewerteten Daten würden vielmehr belegen, dass ein System mit kurzen Amtsdauern und Wiederwahlen eine effektive Beeinflussung der Rechtsprechung verursache. Anhaltspunkte dafür, dass das in der Schweiz grundsätzlich anders wäre, seien nicht ersichtlich, schreibt Stadelmann.
Justizministerin Karin Keller-Sutter sagte zu diesem Thema im Interview mit den CH-Media-Zeitungen: «Es ist in der Schweiz noch nie ein Richter abgewählt worden aufgrund eines Urteils.»
Stadelmann schreibt in seinem Beitrag, dieses Argument verkenne das Grundproblem. Die Einflussnahme geschieht also auf subtile Art. Schon die Möglichkeit einer Nichtwiederwahl sowie die regelmässigen «Denkzettel» in der Form von schlechten Wahlresultaten zeigen Wirkung, wie sich statistisch nachweisen lässt.
Auf Anfrage will sich Stadelmann nicht zu seinem juristischen Beitrag äussern. Das scheint ihm zu heikel zu sein, obwohl sich der 63-Jährige in seiner letzten Amtsperiode befindet.