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Als der Mensch die Fantasie entdeckte, erfand er Gott

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Als der Mensch die Fantasie entdeckte, erfand er Gott (und die Probleme begannen)

Die etwas andere Adventsgeschichte.
09.12.2019, 08:25
Hugo Stamm
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Auch wenn es uns kränkt oder aus religiösen Gründen verletzt, so bleibt es doch eine Tatsache: Wir Menschen stammen von den Affen ab. Doch strenggläubige Christen wollen das noch immer nicht wahrhaben, weil sie uns Menschen als Krone der Schöpfung betrachten. Auserwählte können nun mal nicht von profanen Primaten abstammen.

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Bild: tenor.gif

Archäologie und Paläontologie lehren uns aber eines Besseren. Im Lauf von Hunderttausenden Jahren vergrösserte sich das Hirn des Neandertalers und des Homo sapiens. Mit dem aufrechten Gang schwanden auch die Muskeln. Das Hirn sprang in die Lücke.

Die wachsende Rechenleistung des Hirns erlaubte es den Urmenschen, Werkzeuge herzustellen und das Feuer in ihre Gewalt zu bringen. Doch auf der Ebene des Bewusstseins blieben sie mehr oder weniger auf dem Niveau der Primaten.

Vor etwa 30‘000 Jahren setzte beim Homo sapiens plötzlich eine kognitive Revolution ein, die sich nicht genetisch erklären lässt. Die Entwicklung lief viel schneller ab als bei evolutionären Prozessen. Kommunikationsfähigkeit und Artikulation entwickelten sich rasch.

Die Sprache als Schlüssel

Der entscheidende Schritt, der die Welt dramatisch verändern sollte, war die Entwicklung der Sprache und des fiktiven Denkens des Homo sapiens. Plötzlich konnte er Überlegungen anstellen, Geschichten erfinden, sich Fragen stellen, Antworten suchen, Ideen entwickeln und in die Zukunft denken.

Das war die Geburt der Fantasie, die das fiktive Denken ermöglichte. Dem Homo sapiens tat sich eine neue geistige Welt auf. Gleichzeitig war es der Beginn einer beispiellosen kulturellen Entwicklung.

epa07953254 A woman takes a selfie in front of Giza pyramids, Giza, Egypt, 26 October 2019 (issued 27 October 2019). EPA/MOHAMED HOSSAM
Ohne gemeinsame Identität nicht möglich: Der Bau gewaltiger Sakralbauten wie den Pyramiden in Ägypten. Bild: EPA

In der neuen fiktiven Dimension spielten Geister und Magie eine wichtige Rolle. Der Homo sapiens realisierte, dass unbekannte Kräfte die Welt am Laufen hielten, die er nicht sehen oder fassen konnte.

Götter als fiktives Konstrukt

Hinter den Naturkatastrophen erkannte er böse Geister, in Sonne und Mond gute übermächtige Kräfte. Und schon hatte er die Götter erfunden. Diese waren ein fiktives Konstrukt, um die unbekannten Phänomene erklären und ihnen einen Namen geben zu können.

Die Erschaffung solcher fiktiven Welten hatte einen entscheidenden Vorteil im Überlebenskampf. Sie waren sinnstiftend und wirkten als sozialer und religiöser Kitt. Sie gaben grösseren Gemeinschaften eine Identität. Nur deshalb konnten sie sich in grösseren Verbänden organisieren und arrangieren, um beispielsweise Feinde abzuwehren und gewaltige Sakralbauten wie die Pyramiden in Ägypten zu bauen.

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Die «Erfindung» von Göttern und Geistern ist also einer geistigen Entwicklung geschuldet, die primär auf hirnphysiologische Prozesse zurückzuführen ist und nicht auf genetische. Die Götter waren ein Produkt der Denkfähigkeit und der Errungenschaft fiktionaler Vorstellungskraft und Mythenbildung. Deshalb sind Glaubensgemeinschaften durch kollektive Mythen entstanden, die sich um Geister und Götter rankten.

Es bleibt fiktional

Das fiktionale Denken weckte auch die Sehnsucht nach besseren Lebensumständen ohne Katastrophen und Hungersnöte. Sammler und Jäger wurden sesshafte Bauern, die Getreide anpflanzten, Vorräte anlegten und plötzlich genug zu essen hatten. Mit dem «Wohlstand» nahm auch die Geburtenrate zu. Um die Weide- und Ackerflächen zu vergrössern, wurden Wälder abgefackelt. So begann allmählich das Unheil.

Im Lauf der Jahrtausende differenzierten sich die Vorstellungen von den Geistern. Götter in menschlichen oder tierischen Gestalten lösten Sonne, Mond und Sterne ab. Schliesslich entstand im Nahen Osten die Idee vom Monotheismus mit einem Gott als liebendem Vater. Doch diese Gottesidee ist ebenso fiktional wie der Glaube unserer Vorfahren an die Gestirne.

Manchmal wünscht man sich, unsere Urahnen hätten die Fähigkeit des fiktionalen Denkens nie erlernt.

Die monotheistische Gottesvorstellung wirkt auf gebildete Vertreter der Gattung des Homo sapiens zwar plausibler, wahrer wird sie deshalb aber nicht. Sie hielt sich so lang, weil sie als sinnstiftender Kitt riesige Gemeinschaften zusammenhalten konnte und Vorteile wie Identität und Wohlstand in der realen Welt mit sich brachten. Dies wiederum ist das Geheimnis der beispiellosen geistigen, wissenschaftlichen und technischen Fortschritte.

Einen grossen Anteil daran hatte in der christlichen Welt das göttliche Leitmotto, die Erde untertan zu machen. Wir gingen dabei so gründlich und rücksichtslos ans Werk, dass wir Tausende von Tierarten ausrotteten, die Natur strangulierten und die Ackerböden versauten. Und nun zerstören wir noch die Atmosphäre und müllen die Meere zu, bis die Ökosysteme kollabieren. So können Mythen und Legenden, die nicht rechtzeitig entzaubert werden, zerstörerische Kräfte entwickeln.

Manchmal wünscht man sich, unsere Urahnen hätten die Fähigkeit des fiktionalen Denkens nie erlernt. Dann wären uns alle Götter erspart geblieben. Und wir müssten uns nicht davor fürchten, dass uns unser Planeten vielleicht schon bald um die Ohren fliegt.

Hugo Stamm; Religionsblogger
Hugo Stamm
Glaube, Gott oder Gesundbeter – nichts ist ihm heilig: Religions-Blogger und Sekten-Kenner Hugo Stamm befasst sich seit den Siebzigerjahren mit neureligiösen Bewegungen, Sekten, Esoterik, Okkultismus und Scharlatanerie. Er hält Vorträge, schreibt Bücher und berät Betroffene.
Mit seinem Blog bedient Hugo Stamm seit Jahren eine treue Leserschaft mit seinen kritischen Gedanken zu Religion und Seelenfängerei.

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468 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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HugiHans
07.12.2019 08:59registriert Juli 2018
Ein etwas grosszügiger Rundumschlag, an dem sogar Erich von Däniken über weite Teile seine Freude hätte ...
Persönlich finde ich es liegt eher an der Gier, Eifersucht und Machtansprüchen der Menschen, die uns in das heutige Desaster der Erde gebracht haben. Und die Darstellung von Göttern waren reine Instrumente von solchen machtstrebenden Menschen.
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Tiny Rick
07.12.2019 08:59registriert Dezember 2014
Bisschen weit hergeholt den Glauben als Grund für den Klimawandel abzutun... Ist es nicht eher der rücksichtslose Konsum und die Vorstellung von unbegrenztem Wirtschaftswachstum und Steigerung des Profits, welcher diesen herbeiführte. Die chinesische Regierung schert sich nicht wirklich um Religionen und doch gehören sie zu den grössten Umweltsündern.
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paulmole
07.12.2019 09:06registriert August 2016
Wir müssen uns nicht fürchten dass wir die Erde zerstören, die wird schon wieder. Das hat sie auch schon mehrmals geschafft. Wir bedrohen aber massiv UNSEREN lebensraum, das könnte für unsere Spezies tragisch enden.
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