Er ist einer der bekanntesten lebenden Personen, er wird verehrt wie ein Popstar, er jettet um den Globus und fliegt mit dem Helikopter zurück nach Dharamsala: Der Dalai Lama, das geistliche Oberhaupt des tibetischen Buddhismus, von vielen Buddhisten als Gott-König angebetet. Vermutlich gibt es keine andere Person, die in der Weltöffentlichkeit mehr Vertrauen geniesst und als glaubwürdiger betrachtet wird.
Der Personenkult nimmt auch im Westen ungeahnte Ausmasse an, der Dalai Lama wird mit dem Titel «Ozean der Weisheit» geschmückt. Doch diese Weisheit hat enge Grenzen. Sie hört dort auf, wo die spirituellen Dogmen des Buddhismus beginnen.
Denn die buddhistische Lehre ist geprägt von Aberglauben und einem Weltbild, das tief im letzten Jahrhundert verwurzelt ist. So glaubt der Dalai Lama an Dämonen, magische Kräfte und mysteriöse Orakel. Weisheit sieht aber anders aus.
Das erfuhr ausgerechnet auch der bekannte Schweizer Fotograf Manuel Bauer, der jahrelang der Hoffotograf des Dalai Lamas war und der dem spirituellen Meister so nah kam wie nur wenige.
Bauer erlebte die andere Seite des tibetischen Lamas, weil sein 15-jähriger Sohn Yorick schwer behindert ist und unter der seltenen Krankheit Blitz-Nick-Salaam-Syndrom leidet. Diese führt zu Störungen bei den Hirnströmen im Sekundentakt. Hinzu kommen Zuckungen am ganzen Körper. Yorick kann weder reden noch gehen, auch die non-verbale Kommunikation funktioniert nicht.
Manuel Bauer, der sich aufopfernd um seinen Sohn kümmert, weiss nicht einmal, welche Empfindungen sein Sohn hat, ob er permanent leidet und ob er zwischendurch auch einmal glückliche Momente erlebt. Es ist also nicht auszuschliessen, dass Yorick permanent leidet.
In der Folge hat sich seine Wirbelsäule massiv verkrümmt, weshalb sie mit zwei Metallstützen operativ behandelt werden musste. Der Betreuungsaufwand ist gross, denn Yorick kann nicht selbständig essen und braucht einen Katheter, wie der «Tages-Anzeiger» schrieb. Die Zeitung rezensierte Bauers neues Buch «Brief an meinen Sohn», in dem er das Schicksal von Yorick thematisiert.
Doch zurück zum Dalai Lama. Der 82-jährige Tibeter erkundigte sich einst nach dem Sohn seines Fotografen. Als er von dessen schwerer Krankheit erfuhr, wollte er Bauer trösten. Im Buddhismus lasse sich die Behinderung karmisch erklären, sagte der Dalai Lama. Eltern mit behinderten Kindern hätten möglicherweise in einem früheren Leben ein Kind getötet und müssten nun im Sinn des karmischen Ausgleiches einen kranken Sohn betreuen.
Diesen Gedanken des «weisen Mannes» muss man zuerst setzen lassen. Der Dalai Lama sagte Bauer mehr oder weniger verblümt, er habe in einem früheren Leben wohl ein Kind getötet. Unverblümt heisst das: Du bist oder warst einst ein Kindsmörder. Dafür büsst du nun.
Diese Aussage entlarvt das unmenschliche karmische Dogma. Und es entlarvt das verquere Bewusstsein des Dalai Lama, der in seiner spirituellen Verblendung nicht realisiert, was er Bauer damit antut.
Das System nennt sich «Trost nach karmischem Prinzip». Psychologisch gesehen ist es eine unmenschliche moralische Keule.
Das spirituelle Dogma knechtet die Empathie und Menschlichkeit, die der Dalai Lama angeblich im Übermass hat. Doch er hat in seiner spirituellen Konditionierung nicht nur seinen Fotografen übel stigmatisiert, sondern auch seinen Sohn gedemütigt.
Denn nach der absurden Karmatheorie muss sich auch Yorick in einem früheren Leben eines so schweren Verbrechen schuldig gemacht haben, dass er im aktuellen Leben mit einem derartigen Leiden bestraft wird.
Die Karmatheorie ist nicht nur in der Praxis ein unmenschliches System, sondern auch in der Theorie. Die Idee von der Wiedergeburt ist ein unbewiesenes und unplausibles religiöses Konstrukt. Ausserdem ist diese Reinigungs- oder Sühnevorstellung unsinnig, weil die «Sünder» keine Erinnerung an ihre vermeintliche Tat haben.
Sie werden also für eine Tat bestraft, die sie gar nicht kennen. Es fehlt das Schuldbewusstsein. Die Karmatheorie beinhaltet zudem, dass irgend eine höhere Macht das Geschehen auf der Erde lenkt.
Diese im Buddhismus undefinierte Macht sorgt also dafür, dass die karmischen Belastungen ausgeglichen werden. Konkret: Sie bestraft Sünder, indem sie diese in einem späteren Leben ein schweres Schicksal erleiden lassen. Da der Buddhismus keinen konkreten Gott kennt, spielen wohl Dämonen die Schicksalsgötter. Das ist ebenso schräg wie okkult.
Manuel Bauer verfügt zum Glück über einen nüchternen Geist und einen scharfen Verstand. Er baut auf die Evolutionstheorie und ist überzeugt, dass ein Gendefekt die Krankheit seines Sohnes bewirkt hat.