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Vom Umgang mit dem Nichtwissen

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Bild: sorbis/shutterstock
Yonnihof

Vom Umgang mit dem Nichtwissen

... und dass man es manchmal einfach aushalten muss.
02.04.2015, 12:1102.04.2015, 12:51
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Bei der Berichterstattung über den Hergang der Germanwings-Katastrophe ist in meinen Augen einiges schief gelaufen. Auch deshalb spielen sich gerade verbissene Debatten darüber ab, wer das Huhn ist und wer das Ei – der Voyeurismus des Lesers oder die oberflächliche Berichterstattung der Medien. 

Grundsätzlich bin ich schon einmal der Ansicht, dass es «die Medien» nicht gibt, und wer von «den Medien» mehr Differenziertheit verlangt, sollte vielleicht an der Differenziertheit seines eigenen Medienbegriffs nochmals etwas rumfeilen. 

Was ich nachvollziehen kann, ist, dass man die Handlungsweise einiger Newsoutlets in den letzten Tagen für überstürzt hält, denn das war sie. 

Auf der anderen Seite sind Medien News-Verbreiter. Und, wie der Begriff schon sagt, da sollen die Meldungen möglichst neu sein. Verzapft also ein Staatsanwalt in Frankreich den Namen eines angeblich für den Tod von 149+1 Menschen verantwortlichen Co-Piloten, dann ist diese Info «out in the open», ist neu, ist News. Abzuwarten, ob dieser Meldung eventuell noch eine Relativierung wie «vielleicht war’s auch ein technischer Defekt» folgt, wäre zwar löblich, jedoch aus der Sicht eines Newsoutlets dahingehend riskant, dass eine solche Relativierung vielleicht gar nicht folgt und man dann halt mit der tatsächlichen Info zu spät dran ist. Trotzdem entbindet das die Herausgeber nicht von ihrer Verpflichtung, so weit wie möglich die Wahrheit zu sagen – und daran wurde meines Erachtens in der vergangenen Woche gerne mal etwas rumgezupft, etwas als felsenfest hingestellt, was eher auf Sand gebaut war. 

Fakt ist: Vielleicht werden wir nie wissen, was in dem Flugzeug geschah. Und ich glaube, das ist unser grösstes Problem. Wir müssen wissen, was passiert ist, und wenn es keine stichfeste Geschichte gibt, wird sie konstruiert (von uns oder von anderen), damit wir dieses tragische Päckli zuschnüren und zur Seite legen können. 

Wenn hier aber tatsächlich keine definitive Wahrheit existiert, dann muss man das Umfeld des im Moment bezichtigten Co-Piloten schützen – nein, eigentlich muss man das auch, wenn dem Mann die Tat zu 100% nachgewiesen werden kann, denn seine Familie und sein sonstiges Umfeld können auch dann nicht das Geringste für die Entscheidung des jungen Mannes. 

Schutz des Umfeldes ist eins. Was auch wichtig ist, und in diesem spezifischen Fall scheint es mir gar zentral, ist die Vermittlung von Wissen über das, was Tatsache ist, und über das, was nun dazu gedichtet wird. So liest man nun da und dort Worte wie «psychopathischer Massenmörder» oder «depressiver Psychopath». 

In diesem Punkt scheint der eine oder die andere lustigerweise genauso vorschnell wie «die Medien», über welche er/sie sich gerade noch beklagte. Soweit ich weiss, hatte der junge Mann eine diagnostizierte Depression, welche zum Zeitpunkt der Tragödie noch anhielt – ich schliesse das aus der Tatsache, dass er von einem Therapeuten von der Arbeit freigestellt worden war (das zerrissene ärztliche Zeugnis wurde bei ihm zuhause gefunden). 

Von Psychopathie, dem Begriff, der dem Co-Piloten nun von Hinz und Kunz angedichtet wird, ist nirgends die Rede. Nebst der Tatsache, dass «Psychopathie» in den beiden grossen Diagnosewerken psychischer Störungen nicht einmal aufgeführt wird, wissen wir nicht, ob der junge Mann irgendwelche antisozialen/dissozialen Persönlichkeitsprobleme hatte. Wir können nicht abschätzen, mit welchen genauen Hintergedanken er den Sinkflug der Maschine einleitete (sollte er das denn tatsächlich getan haben). Wir können das einfach nicht wissen.

Anstatt aber mit dieser Ungewissheit umzugehen und sie auszuhalten, wird dem Mann eine psychische Störung angedichtet, die er wahrscheinlich gar nicht hatte. Weil das in unseren Augen Sinn macht. Weil es einfacher ist, seinen Hass auf einen gewissenlosen Menschenzerstörer zu richten als z.B. auf einen verzweifelten Jungen von nebenan, dessen Hirn sich ausgeschaltet hat. Oder sich einzugestehen, dass er's vielleicht doch nicht war.

Das hier soll kein Täterschutz sein: Falls der Co-Pilot sich bewusst war, was er tat, und es tatsächlich willentlich zur Katastrophe hat kommen lassen, ja, dann ist er ein Massenmörder. Und dann darf man wütend sein auf ihn, fuchsteufelswild, ihn verfluchen und hassen.

Aber zur Zeit besteht noch «in dubio pro reo» und wenn sich die Zweifel nicht beseitigen lassen, müssen wir lernen, für immer mit den offenen Fragen umzugehen und die verbleibende Unwissenheit auszuhalten.

Niemand hat behauptet, dass das einfach ist.

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Yonni Meyer
Yonni Meyer schreibt als Pony M. über ihre Alltagsbeobachtungen –direkt und scharfzüngig. Tausende Fans lesen mittlerweile jeden ihrer Beiträge. Bei watson schreibt die Reiterin ohne Pony – aber nicht weniger unverblümt. 

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9 Kommentare
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#10
02.04.2015 18:23registriert April 2014
Leider ist es so, dass wir ziemlich genau wissen, was im Flugzeug geschah. Und das alle unberechtigten "Hoffnungen", es möge doch irgendein technischer Defekt oder weiss-der-Gugger-was gewesen sein, schon lange zunichte sind. Von den Fakten, die uns Staatsanwälte ohne jede Aufregung oder Interpretation vorgetragen haben. - Das Wissen um diesen Vorgang ist vermutlich schwieriger auszuhalten als das Unwissen, für das Pony M. plädiert. Als Anlass für eine neuerliche Medienschelte dient es schon gar nicht.
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