Mit 180 Stundenkilometern rase ich über die Brooklyn Bridge – gegen die Fahrtrichtung. Ich sah die Trümmer von Washington, nachdem eine Atombombe die Zivilisation ausgelöscht hatte. In Dubai überlebte ich einen Sandsturm, in Nepal verliebte ich mich. Ich kämpfte auf den Schlachtfeldern in Afghanistan, im Irak und im Kongo. Ich traf Ausserirdische (oft waren sie verblüffend ähnlich wie wir und feindlich gesinnt), und ich überflog auf einem Drachen die schneebedeckten Hügel von Azeroth.
All das habe ich wirklich getan. Es sind alles meine Erlebnisse. Gemacht habe ich sie in Computerspielen.
In ihrem über fünfzigjährigen Bestehen haben sich Computerspiele von reinen Geschicklichkeitsübungen zu einem Erzählmedium entwickelt. Sie gliedern sich damit in die Reihe von Literatur, Theater und Film – und sind doch ganz anders. Denn in einem Computerspiel wohnen wir nicht bloss einer Geschichte bei. Wir spielen selber die Hauptrolle. Games sind das erste massentaugliche interaktive Erzählmedium.
Okay, auch Literatur kann man als interaktiv bezeichnen. So, wie das Wirkungsästhetiker wie Wolfgang Iser gerne tun. Und sie haben ja recht, wenn sie behaupten, dass der Sinn des Textes erst im Zusammenspiel zwischen Leser und Autor entsteht; der Leser erweckt die toten Buchstaben des Autors zum Leben. Doch, um mit den Worten des Game-Wissenschafters Gonzalo Frasca zu antworten: «Egal wie stark uns Literaturtheoretiker an die aktive Rolle des Lesers erinnern, Anna Karenina wird immer von einem Zug überfahren und Ödipus wird immer seinen Vater töten und mit seiner Mutter schlafen.»
In Computerspielen hingegen können wir selber Einfluss auf die Handlung nehmen. Wir interagieren nicht nur mit dem Text (wie beim Lesen), sondern in einer virtuellen Welt. Wir haben es mit einer ganz anderen Qualität von Interaktion zu tun. Und damit wird ein lang gehegter Traum von avantgardistischen Autoren und Regisseuren wahr: den Leser respektive den Zuschauer selber zum Protagonisten zu machen. Er soll entscheiden können, wie sich die Geschichte entwickelt.
Einer, der das in den 1960er-Jahren versucht hat, ist der argentinisch-französische Schriftsteller Julio Cortazar. In seinem Kultroman «Rayuela» kann der Leser selber bestimmen, in welcher Reihenfolge er die 151 Kapitel lesen will – so verändert sich die Handlung des Romans. Es scheint fast, als wollte Cortazar zwischen zwei Buchdeckeln bereits die Möglichkeiten des Computerspiels vorwegnehmen. Jede Kunstform, so meint der Philosoph Walter Benjamin, gelange einmal an einen Punkt, an dem sie «auf Effekte hindrängt, die sich zwanglos erst bei einem veränderten technischen Standard, das heisst in einer neuen Kunstform ergeben können». Diese neue Kunstform ist das Computerspiel.
Ausgerechnet in den oft verschrienen Games werden Geschichten in einer neuen Dimension erfahrbar. Diese Entwicklung ist so heftig, dass dabei ein jahrtausendealtes Erzählkonzept umgedreht wird. Bei einem Roman wird eine fest gefügte Handlung erzählt; die Welt, in der die Geschichte spielt, muss der Leser aber aufgrund der Angaben im Text (vor seinem geistigen Auge) selber erschaffen.
Beim Lesen von J. R. R. Tolkiens «Herr der Ringe» etwa malen wir uns aus, wie die Fantasy-Welt mit den verschiedenen Städten und Regionen aussieht, durch die der Hobbit Frodo seine beschwerliche Reise unternimmt. Die Reise selber hingegen, die sich als Handlungsfaden durch die Welt spinnt, ist von Tolkien vorgegeben. Beim Film ist das nicht anders. Zwar sehen wir da Bilder von der fantastischen Welt. Doch das sind immer nur einzelne Einstellungen. Was sich links und rechts davon oder hinter einem Berg befindet, müssen wir uns vorstellen. Aufgrund der einzelnen Kameraeinstellungen setzen wir uns die Welt zusammen.
Beim Computerspiel ist es genau umgekehrt. Hier ist die Welt gegeben – detailliert gestaltet von den Game-Designern. Den Handlungsstrang hingegen, die Reiseroute durch diese Welt, bestimmt der Spieler. Je nachdem, für welche Abenteuer er sich entscheidet, verändert sich die Handlung (wobei vorgegebene Stationen und filmische Zwischensequenzen dafür sorgen, dass der Spieler eine stringente Geschichte erlebt, die der Intention der Spielemacher nicht widerspricht).
Kurz: Im Roman und Film dominiert die Handlung über die Welt; im Computerspiel die Welt über die Handlung. Das führt zu einer Aufwertung des Raums, der im Computerspiel zu einem Simulationsraum wird. Es lassen sich darin verschiedene Handlungen simulieren – zum Beispiel in «Grand Theft Auto IV» mit 180 Stundenkilometern über die Brooklyn Bridge zu rasen.
Daraus resultieren intensive Erfahrungen, die wir in der realen Welt nie machen könnten. Die Handlungsmöglichkeiten sind aber oft banal. Wir können den Gegner oft nur wegballern, ihn nur selten mit guten Argumenten überzeugen. Das liegt daran, dass Schiessen, Schlagen, Fliegen und Rasen Handlungen sind, die viel besser mithilfe von künstlicher Intelligenz simuliert werden können als komplexe soziale Interaktionen wie Argumentieren.
Gerade deshalb haben wohl etablierte Geisteswissenschafter eine sehr eindimensionale Vorstellung von Computerspielen – wenn sie sich denn überhaupt mit ihnen beschäftigen. Für den Philosophen Dieter Mersch beispielsweise setzen Computerspiele vor allem auf Reaktion und Schnelligkeit und verlangen «kein Verständnis von Szene und Geschichte». Kurz: Man kann einfach nur ballern. Wenn man möchte, kann man Ego-Shooter tatsächlich so spielen. So wie man sich auch an den rasanten Actionszenen eines Films ergötzen kann, ohne die Handlung zu verstehen. Oder so wie man sich an den Klängen einer Oper erfreuen kann, ohne die Handlung nachzuvollziehen. Die Intention ist jedoch beim Film, der Oper und bei vielen Computerspielen eine andere: Sie wollen interpretiert werden.
Besonders deutlich zeigt sich das bei Games, die über eindimensionale Handlungsmuster hinausgehen und in denen der Spieler moralische Entscheidungen treffen muss. Dabei wird der Spieler oft in regelrechte Dilemmata getrieben. Eine der erschütterndsten Situationen habe ich in Dubai erlebt, als ich als amerikanischer Elite-Soldat im Spiel «Spec Ops the Line» nach einem Zwischenfall von meiner Truppe getrennt wurde.
Plötzlich stehe ich einer Meute von Zivilisten gegenüber, welche die Amerikaner – und folglich mich – hassen. Sie beginnen damit, Steine nach mir zu werfen. Die Lebensenergie sinkt. Was tun? Ich will nicht sterben. In die Menge schiessen? Die Waffe wegstecken? Einen Warnschuss in die Luft abgeben?
In solchen Momenten können Videospiele – im Rahmen des Fiktionalen – zu einer existenzialistischen Erfahrung werden. In den Interaktionsprozess fliesst dann nicht nur das motorische Geschick des Spielers ein, sondern auch dessen Wertvorstellung. Das funktioniert so in keinem anderen Medium. In solchen Situationen wird der Spieler auf sich selber zurückgeworfen. Das Spiel zeigt ihm die Konsequenzen seines Handelns und hält ihm so sein moralisches Bewusstsein als Spiegel vor.