Als der Bewerber das Videobild aktiviert, stutzt Clemens Maria Schuster. Auf dem Bildschirm taucht ein Mann auf, der dem Bild aus den Bewerbungsunterlagen überhaupt nicht ähnlich sieht. Statt des Bewerbers «Oleg Postoev» blickt dem IT-Unternehmer ein Mann mit chinesischen Gesichtszügen entgegen.
«Ich war irritiert», erzählt der IT-Unternehmer, dennoch führt er das Interview weiter. Doch mit jeder verstrichenen Sekunde steigt sein Misstrauen. Der angeblich russische Bewerber spricht Englisch nicht wie erwartet mit einem typischen rauen Akzent, sondern klingt ziemlich asiatisch.
Da beginnt Schuster nachzufragen. Bereits einfachen Fragen zu seiner vorgeblichen Heimatstadt Moskau oder zum Wohnquartier weicht der mysteriöse Bewerber aus. «Die Fragen und mein weiteres Nachstochern haben ihn aus dem Konzept gebracht, er war nicht darauf vorbereitet», erzählt Schuster. Nach ein paar weiteren Fragen und Antworten, die alle irgendwie auswendig gelernt klingen, bricht er das Online-Bewerbungsgespräch ab.
Schuster ist Mitgründer und Geschäftsführer von politik.ch. Die Plattform vereint sämtliche öffentlich zugänglichen nationalen und kantonalen Daten aus dem Schweizer Politikbetrieb. Für Kunden werden diese Daten übersichtlich aufbereitet. Die Bankiervereinigung, Axpo, Hirslanden, aber auch NGOs wie der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, Parteien, Verbände oder Lobbyisten nehmen die Dienste von politik.ch in Anspruch.
Auf Basis von Jahresabonnements erhalten sie jede neue Information zu ihren Interessensgebieten und verpassen keinen Termin. Ein Dutzend Angestellte hat politik.ch. Das Startup arbeitete schon vor Corona remote – schicke Büroräumlichkeiten gibt es keine. «Gute Leute arbeiten dort am besten, wo sie sich wohlfühlen», ist Schuster überzeugt. Sein Team arbeitet in der Schweiz und weiteren EU-Ländern.
Da vor kurzem ein Teammitglied gekündigt hatte, startete Schuster eine neue Rekrutierung. Er macht es wie so oft, schreibt die Stelle auf der eigenen Website, auf branchenüblichen Jobportalen in der Schweiz und Europa und auf Social Media aus. Der Rücklauf ist gross, rund 150 Leute bewerben sich. Schuster sortiert zahlreiche Bewerbungen aus Indien, von den Philippinen oder China konsequent aus. «Das funktioniert wegen des Zeitunterschieds einfach nicht», erklärt er. Ein bis zwei Stunden Zeitunterschied gehe, mehr aber nicht.
15 Personen lädt er zum Videocall ein. «Oleg» ist der erste Kandidat, mit dem er spricht. Schuster denkt sich nicht viel dabei. Ein Spinner, ein Fehler, ein komischer Einzelfall.
Er täuscht sich: Bei fünf der restlichen 14 Kandidaten, blicken ihm erneut andere Personen aus dem Bildschirm entgegen, als es ihre Lebensläufe erwarten lassen. Allesamt sind es Personen asiatischer Herkunft. Zu Beginn sprechen sie meist von technischen Problemen mit der Kamera oder schlechter Verbindung. Deshalb könnten sie das Video nicht einschalten.
Doch Schuster besteht darauf. «Das ist Pflicht für eine Onlinerekrutierung, ich muss mein Gegenüber sehen. Schliesslich geht es auch darum, Vertrauen aufzubauen.» Und so sitzt er statt einer Person aus Griechenland oder der Ukraine erneut mutmasslichen Chinesen gegenüber. «Das habe ich noch nie erlebt», sagt der Unternehmer, der schon mehrere Hundert Bewerbungsgespräche geführt hat. Nach kurzem Hin und Her bricht er auch diese Gespräche ab. «Es kann kein gutes Arbeitsverhältnis auf der Basis einer Lüge über die eigene Identität aufgebaut werden.»
Schuster vermutet, dass es sich dabei um den Versuch von Wirtschaftsspionage handeln könnte. «Als Digitalunternehmen, das mit politischen Daten arbeitet, sind wir wahrscheinlich nicht uninteressant.» Die Firma hat sich denn auch gut gegen Cyberrisiken abgesichert. «Wir müssen und wollen das unseren Kunden auch darlegen», betont Schuster. Die Daten von politik.ch seien nach Bankenstandards gut gesichert.
Diese Vermutung hat auch Max Klaus vom Nationalen Zentrum für Cybersicherheit NCSC: «Es dürfte sich um irgendeine Art von versuchtem Betrug oder allenfalls um einen Versuch der Informationsbeschaffung über das betroffene Startup handeln», sagt er. Bis anhin hat der NCSC aber keine Kenntnis von diesem Vorgehen. Auch bei grösseren IT-Personalvermittlern kennt man dieses Phänomen nicht - oder noch nicht. Gulp beispielsweise, einer der grössten der Branche, verneint auf Anfrage, dass man solche Versuche schon einmal erlebt habe.
Der Nachrichtendienst des Bundes hält es jedoch «durchaus für plausibel, dass Bewerbungsgespräche, die online durchgeführt werden, zwecks Spionage genutzt werden», wie eine Sprecherin auf Anfrage sagt.
Remote Work, Videokonferenzen und Home-Office ermöglichten zwar flexibles Arbeiten. Dieses berge aber auch gewisse Risiken, die beispielsweise den Datenschutz und die Datensicherheit betreffen. «Auch Cyberangriffe können vereinfacht durchgeführt werden.» Vor allem dann, wenn Systeme und Netzwerkinfrastrukturen im privaten Arbeitsumfeld zu wenig geschützt seien. «Dadurch erweitert sich potenziell auch die Angriffsfläche für Kriminelle», sagt die Sprecherin.
Schuster will wegen den mysteriösen Bewerbern sein Rekrutierungsprozess nicht abändern. «Grundsätzlich sind wir so sehr gut gefahren», sagt er. Neu, werde er aber die Profilfotos von Bewerbenden mit einer Google-Suche verifizieren. «Dabei kann ich schnell und einfach feststellen, ob es sich um ein Bewerbungsfoto handelt, oder ob es aus einer Bilddatenbank kommt oder irgendwo geklaut wurde.»
Die Stelle konnte Schuster inzwischen wieder besetzen. Ein Franzose hat sich gegen eine Kandidatin aus Estland und eine Person aus Kroatien durchgesetzt.
(aargauerzeitung.ch)
Da hat wohl eher ein Chinese das Inserat gesehen und es auf Social Media mit seinen Freunden geteilt. Millionen Uniabgänger finden derzeit in China kaum Jobs und verzweifeln fast, da kommt so eine Gelgenheit wie gerufen.