Die Geschichte von der Ratte hat Wladimir Putin immer gern erzählt. Sie ereignete sich während seiner Kindheit im Treppenhaus einer Kommunalwohnung in Leningrad. Da habe er einmal eine Ratte gejagt. Als er sie in eine Ecke getrieben hatte, sprang sie ihn aber plötzlich an und verfolgte ihn über mehrere Stockwerke. Da habe er gelernt, besser niemanden in eine Ecke zu drängen.
Mit seinem Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine steht er nun selbst in der Ecke, isoliert von Europa. Die Ukraine erwies sich im ersten Kriegsjahr als überlegener Gegner, der die Schwächen der russischen Armee blossstellte.
Auch Europa und den Westen hat Putin sträflich unterschätzt: Er verhöhnte sie als verweichlicht und dekadent. Sie könnten «ohne Gänsestopfleber, Austern und Gender-Freiheiten nicht mehr leben». Und weiter: «Sie halten sich offenbar für Angehörige einer höheren Kaste und höheren Rasse.»
Das sagte er im März 2022, als er noch immer von einem Blitzkrieg ausging. Den ältlichen amerikanischen Präsidenten Biden oder den deutschen Kanzler Scholz nahm er ebenso als Witzfiguren wahr wie den ukrainischen Präsidenten Selenski.
Doch der verhasste Westen stellte sich erstaunlich geeint und tatkräftig gegen Putins Regime, wehrte bis jetzt auch erfolgreich seinen Energiekrieg ab.
Innenpolitisch scheint Putin in seiner Machtvollkommenheit noch ungefährdet. Durch die militärische Mobilmachung ist der Krieg seit letztem Herbst aber definitiv in Russland angekommen. Einen Drittel des Staatshaushalts gibt das Regime nun für Militär und innere Sicherheit aus.
Damit sinken Investitionen in zivile Bereiche wie Schulen oder Krankenhäuser um mindestens 20 Prozent. Putin gefährdet damit das eigene Erfolgsmodell, das der eigenen Bevölkerung zwar keine politische Freiheit, aber immerhin einen bescheidenen Wohlstand gebracht hat.
In den Augen seiner erstaunlich folgsamen Untertanen darf Putin nur siegen. Bis jetzt konnte er die Rückschläge seiner Truppen noch auf andere abwälzen, das wird im zweiten Kriegsjahr immer schwerer möglich sein, da er ja alle Oberkommandierenden bestimmt. So ist er also wie die Ratte in seiner Kindheitsanekdote auch innenpolitisch gehörig in die Ecke gedrängt, und die Frage stellt sich, wie weit er im zweiten Kriegsjahr gehen wird.
Die plausibelsten Szenarien liefern Expertinnen und Experten, die Putin schon getroffen und in Russland gelebt haben, die Sprache beherrschen und doch völlig unabhängig vom aufgeblähten Propagandaapparat arbeiten. Ein Analytiker, der alle diese Bedingungen erfüllt und seit über 25 Jahren für «Die Zeit» aus Moskau berichtet, ist Michael Thumann.
Von ihm ist soeben ein hochinformatives, kluges Buch über Putin erschienen, das auch andere Kennerinnen und Kenner des russischen Diktators gebührend zur Kenntnis nimmt (siehe Quellen). Thumann unterscheidet sich wohltuend von den zahlreichen deutschen Putin-Lobbyisten und -Versteherinnen. Er hat seit den 1990er-Jahren Putin mehrfach interviewen können.
Glaubhaft zeichnet er nach, wie der Kreml-Chef das «bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat». Thumanns Buch heisst «Revanche». Putin sehe den Zerfall der Sowjetunion nicht als Segen, sondern als Katastrophe an. Er «sinnt auf Revanche für die vergangenen drei Jahrzehnte». Im Grunde sei der Krieg gegen die Ukraine eine späte Reaktion auf den Fall der Berliner Mauer.
Putin will Russland zu alter Grösse zurückführen und jene das Fürchten lehren, die sein Land geschwächt, gedemütigt und verraten hätten. Er denkt in russischen Grossmachtdimensionen, setzt auf einen autoritären Nationalismus. Russland soll wieder eine Supermacht werden wie einst die Sowjetunion, einfach ohne Planwirtschaft, ohne die reine Lehre der kommunistischen Weltbeglückung.
Man könnte wie der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew von einer negativen Perestroika sprechen. Strebte Gorbatschow einst eine Öffnung und Modernisierung des gesellschaftlichen und politischen Lebens in der Sowjetunion an, will Putin das Gegenteil erreichen: Russland zieht wieder den Eisernen Vorhang zum Westen hoch und will sich durch Abschreckung Respekt verschaffen.
Da er im Westen geächtet ist, bleibt Putin wirtschaftlich aber nur die Abhängigkeit von China. Als Hauptabnehmer für russisches Gas wird Peking allerdings Moskau immer mehr die Preise diktieren können, mutmasst Thumann.
Er geht wie andere Kenner davon aus, dass Putin sich im zweiten Kriegsjahr weiter radikalisieren wird. Um nicht als Verlierer dazustehen, muss er mindestens den Donbass einnehmen. Dank der militärischen Mobilmachung verfolgt er jetzt die alte russische Strategie, den Gegner mit schierer Masse an Manpower und Material zu besiegen.
Doch Analysten bezweifeln, ob er die oft schlecht ausgebildeten Truppen mit genug Waffen und Munition ausrüsten kann. So wird er sich weiter mit sporadischen Offensiven begnügen müssen.
Zudem dürfte er seine grausamen Bombardierungen ziviler Einrichtungen und Wohnviertel intensivieren, um der ukrainischen Bevölkerung das Leben möglichst unerträglich zu machen. Hinzu kommt der hybride Krieg gegen den Westen, dem Russland digital oder energetisch schaden will. Inzwischen spricht Putin wie ein religiöser Fanatiker von einem «heiligen Krieg», den er gegen die Nato, gegen die USA, gegen Europa und die EU führe.
Gefährlich sind die immer krasseren russischen Fehleinschätzungen und emotionalen Überreaktionen. Sobald der Stellungs- und Abnutzungskrieg in der Ostukraine wie eine Pattsituation aussieht, würde Putin das als Niederlage empfinden und die weitere Eskalation suchen. Wird er dann die rote Linie überschreiten und Nuklearwaffen einsetzen?
Putin und seine Propagandisten geizten schon im ersten Kriegsjahr nicht mit Armageddon-Drohungen. In russischen Talkshows gehört es fast zum guten Ton, die nukleare Pulverisierung von London, Washington oder Berlin zu fordern. Andererseits zögert Putin bis jetzt, die Gefechtsbereitschaft der russischen Atomstreitkräfte weiter zu erhöhen, nachdem er sie im letzten Frühling auf Stufe zwei von vier Stufen angehoben hat.
Thumann zählt die Argumente auf, die für und gegen einen atomaren Konflikt sprechen. Der Einsatz von taktischen Nuklearwaffen mache in der Ukraine wenig Sinn. «Sie eignen sich für Angriffe auf grosse Ziele, auf eine ganze Heeresgruppe oder eine grössere Stadt. Die ukrainischen Streitkräfte aber sind dezentral organisiert.» Eine ganze Stadt auszulöschen, könnte auch auf die russische Bevölkerung ausstrahlen.
Ausserdem müsste Putin mit einem Gegenschlag auf sein Land rechnen. Putins Biografin Fiona Hill schreibt, er sei an sich kein Selbstmordkandidat, eher ein «survivalist», ein hartnäckiger Überlebenskünstler, der sich einen herausragenden Platz in der russischen Geschichte sichern wolle.
Leider spricht für Thumann auch etwas für einen Atomschlag. Wer ständig mit der Nuklearoption drohe, setzt sich unter Zugzwang. Wenn Putin sich zu sehr in die Ecke getrieben fühlt, so wie die Ratte in seiner Kindheit, könnte er eben doch den atomaren Befreiungsschlag versuchen. Ganz sicher wägt man im Kreml ab, was schlimmer wäre: die Nachteile eines Atomwaffeneinsatzes oder die Nachteile einer Kriegsniederlage. Letzteres hätte auf jeden Fall auch Folgen für Putin und sein Regime.
Dann wäre eine Rebellion gegen den gescheiterten Kriegsherrn möglich, die Michael Thumann sonst für «kein wahrscheinliches Szenario» hält. Zu gut habe Putin seine Macht abgesichert und zu wirksam jede gefährliche Opposition zerstört. Widerstand sei im eigenen Land nicht zu erwarten. Was er also am meisten zu fürchten hat, ist er selbst. Dass er eine Fehlentscheidung zu viel trifft. Mit fatalen Konsequenzen auch für ihn.
Buchtipp: Michael Thumann: «Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat.» Verlag C.H. Beck, München 2023, 288 Seiten.
(aargauerzeitung.ch)