In seinem Buch «Die Welt von gestern» beschreibt Stefan Zweig, wie sich sein Umfeld gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts verändert hat. Die puritanische Moral der Viktorianer zerbröckelte allmählich. Ein neues Lebensgefühl begann sich in Wien – wo Zweig aufwuchs – auszubreiten, zumindest in den Kreisen, in denen der Schriftsteller verkehrte. Europa öffnet sich und man konnte ohne Pass in jedes beliebige Land reisen. Langsam erreichten die Früchte der industriellen Revolution auch den Mittelstand. Kurz: Das Leben in der Belle Epoque war gut.
Der Erste Weltkrieg kostete nicht nur Millionen das Leben, er würgte auch die neuen Freiheiten und das heitere Lebensgefühl ab. Totalitäre Regimes waren auf dem Vormarsch, die Heiterkeit der Belle Epoque erlosch. Mit Hitler und Stalin erreichte die Hasswelle ihren Höhepunkt. Zweig wanderte nach Brasilien aus. 1942 beging er zusammen mit seiner Frau Selbstmord.
Eine solch extreme Reaktion ist niemandem zu wünschen. Doch der Schock des Siegs von Donald Trump hat in linksliberalen Kreisen bereits eine Depression ausgelöst. Man musste nicht John Lennons Welthit «Imagine» wörtlich nehmen, um nach dem Fall der Berliner Mauer daran zu glauben, dass eine Welt möglich ist, in der alle Menschen in Anstand und in Frieden miteinander leben können. Wer jetzt noch an diesen Traum glaubt, der braucht wahrscheinlich professionelle Hilfe.
Stattdessen breitet sich die Angst vor neuen autoritären Regimes rasant aus. So schreibt beispielsweise Michelle Goldberg in ihrer Kolumne in der «New York Times»:
Etwas nüchterner kommt der «Economist» zum gleichen Schluss:
Die Reaktionen auf den Trump-Schock fallen verschieden aus. Die einen halten es mit Martin Luther, der einst gesagt haben soll: «Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.» Sie verweisen darauf, dass Trumps Sieg gar nicht so erdrutschartig ausgefallen ist, wie anfänglich behauptet wurde, und dass die Demokraten letztlich gar keine Chance hatten, ihn zu verhindern.
Tatsächlich gibt es einen guten Grund für diese These: Covid. Die Pandemie hat die globalen Lieferketten unterbrochen und damit eine Inflation de facto unausweichlich gemacht. Diese Gefahr mag zunächst unterschätzt worden sein, und möglicherweise sind die Hilfspakete, die geschnürt worden waren, einen Tick zu hoch ausgefallen.
Doch die Inflation hat dieses Jahr allen regierenden Parteien – ob links oder rechts – bei den Wahlen massiv zugesetzt. In Frankreich und Belgien haben sie 36 Prozentpunkte verloren, im Vereinigten Königreich gar 46 Prozentpunkte, und in Deutschland ist soeben die Ampelkoalition in die Brüche gegangen. So gesehen stehen die amerikanischen Demokraten relativ gut da. Sie haben bloss 7 Prozentpunkte verloren.
Trotzdem: Die Niederlage der Demokraten schmerzt auch deshalb, weil sie rational kaum zu erklären ist. Okay, in der Frage der Immigration hat die Biden-Regierung suboptimal gehandelt. Doch Trump muss zuerst beweisen, dass er es besser machen wird. Ohne die illegalen Einwanderer bricht die amerikanische Landwirtschaft zusammen. Das gilt übrigens auch für Europa. Deshalb gelingt es beispielsweise selbst der rechten Regierung Italiens nicht, das Problem in den Griff zu bekommen.
Der «Woke-Wahnsinn», das zweite Bein, auf dem Trumps Triumph steht, ist reine Fiktion. So warnte Trump seine Fans an seinen Rallys, sie müssten sich hüten, dass ihre Kinder nicht morgens als Knaben in die Schule gehen und abends als Töchter nach Hause kommen würden. So absurd dies tönen mag, diese Lüge hat grosse Wirkung gezeigt. Die erfolgreichsten Wahlspots der Republikaner bezogen sich auf das Transgender-Thema.
Das wiederum zeigt, wie weit sich die Rechtspopulisten von der Realität entfernt haben. Wie aber soll man mit Fakten gegen diesen Verschwörungs-Unsinn ankämpfen?
Der Trump-Schock wird Wirkung zeigen, zunächst wirtschaftlich. Trumps Zorn mag sich vor allem auf China richten, doch auch auf Europas Wirtschaft kommen schwere Zeiten zu. Die bereits angeschlagene deutsche Autoindustrie muss damit rechnen, dass sie mit Strafzöllen noch weiter geschwächt werden wird. Alle NATO-Länder müssen sich zudem darauf gefasst machen, dass sie die Hilfe an die Ukraine – militärisch und zivil – alleine stemmen müssen.
Die Schweiz wird wohl auch ins Visier des 47. Präsidenten kommen. Trump mag Handelsdefizite nicht, und wir haben mit den Amerikanern einen gewaltigen Leistungsbilanzüberschuss. Sollte die Schweizerische Nationalbank versucht sein, diesen Überschuss mit einer künstlichen Verbilligung des Frankens zu unterstützen, könnte dies ebenfalls bös enden.
Vor allem jedoch wirkt der Trump-Schock auf die Stimmung. Die Rechtspopulisten jubeln und wittern noch mehr Morgenluft. Sie werden ihre Hemmungen endgültig fallen lassen, hat ihnen Trump doch vorgemacht, dass Lügen, Hetze und offener Rassismus nicht nur salonfähig, sondern Erfolgsrezepte geworden sind.
Ist damit der Weg in einen neuen Totalitarismus also bereits vorgezeichnet? Nein. Zu Recht erklären alle, die nicht an die These eines neuen Faschismus glauben, dass dazu die wirtschaftlichen Grundlagen fehlen. Anders als in den Zwischenkriegsjahren haben wir weder Massenarbeitslosigkeit noch Massenelend. Und ob sich die viel zitierten «checks and balances» des amerikanischen Systems so leicht aushebeln lassen, ist ebenfalls unklar.
Mit einem politischen Temperatur-Sturz müssen wir jedoch auf jeden Fall rechnen. Es wird kälter werden, nicht nur, weil der Winter kommt. Hoffnung verspricht allenfalls Trumps nachweisliche Inkompetenz. Das ist jedoch ein schwacher Trost. Wir werden deshalb der neuen Trump-Welt ins Auge sehen müssen und uns damit abfinden, dass die «besseren Engel», von denen einst Abraham Lincoln sprach, die USA diesmal im Stich gelassen haben. Sie haben offenbar eine Gewerkschaftspause eingeschaltet – möglicherweise für längere Zeit.