Die Arbeitsgruppen haben geliefert. Die 16 Teams mit jeweils 16 Fachleuten von CDU, CSU und SPD haben ihre Gesprächsergebnisse niedergeschrieben und hochgeladen. Sie haben sich, nach allem, was man weiss, an die vorgegebene Schriftgrösse (11, Calibri, Zeilenabstand 1,5) gehalten und das verhängte Selfieverbot befolgt. In manchen Runden wurde wenig, in anderen mehr und grundsätzlicher gestritten.
In den Gruppen spiegelten sich die Konflikte zwischen Union und SPD: Sie haben ihre Differenzen zusammengefasst in wenigen Sätzen, aber gelöst haben sie sie nicht. Erledigen muss das nun die Spitzengruppe rund um die Partei- und Fraktionschefs – die eigentliche Arbeit, die Regierungskoalition zu schmieden, beginnt jetzt.
Im Zentrum steht dabei ein Mann, der noch nie eine Regierung geschmiedet hat und der sich hinsichtlich zentraler, nun gefragter Qualitäten von Kompromissfähigkeit und Vertrauensbildung zuletzt schwertat: CDU-Chef Friedrich Merz startet angeschlagen in die vorerst wichtigsten Gespräche seiner politischen Karriere. Er bringt Ballast mit in die Verhandlungen, Ballast, der aus seinen eigenen Fehlern resultiert.
Mit seiner nach der Wahl abrupt vollführten Abkehr vom Konsolidierungskurs hat sich der Kanzler in spe zwar das nötige Schmiermittel für eine Koalition mit den Sozialdemokraten besorgt. Auch gewann er durch das nun ausgehandelte Schuldenpaket riesigen finanziellen Spielraum für die kommende Regierungszeit. Doch seine Glaubwürdigkeit hat durch das Manöver hohen Schaden genommen – auch in der eigenen Partei. In einer Union, die dazu neigt, nur leise zu murren, ist der Unmut derzeit kaum zu überhören. Vom früheren CSU-Chef Horst Seehofer bis zum liberalen Ministerpräsidenten Daniel Günther aus Schleswig-Holstein setzte es Kritik an Merz' Vorgehen.
Den Vorwurf der Wählertäuschung, den Merz nun mit sich herumschleppt, findet auch jeder zweite Anhänger von CDU und CSU berechtigt (44 Prozent). Insgesamt sind laut ZDF-Politbarometer gar drei Viertel der Befragten der Ansicht, Merz habe mit dem Schuldenmanöver getäuscht (73 Prozent). Während der Bundesrat am Freitag sein Finanzpaket durchwinkte, sass Merz auf einer Bühne in Frankfurt beim eher freundlich gesonnenen Publikum der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dort räumte er deutlich wie noch nie ein, dass sein politisches Kapital geschwächt sei: «Ich weiss, dass ich einen sehr hohen Kredit in Anspruch genommen habe, auch was meine persönliche Glaubwürdigkeit betrifft.»
Das war ein neuer Ton. Seinen Auftritt im Bundestag in der vergangenen Woche, wo er seine Wende hätte erklären können, nutzte er stattdessen für eine Verteidigung: Er habe doch schon, sagte Merz, bei einem Forum der Süddeutschen Zeitung im November eine Bereitschaft für neue Schulden erkennen lassen. Dass darauf ein Wahlkampf folgte, in dem Merz hundertfach forderte, man müsse sparen, statt wie eine angeblich verantwortungslose politische Konkurrenz neue Kredite aufzunehmen, liess er unerwähnt.
Die Täuschung lässt laut Umfragen das allgemeine Vertrauen in Merz' Regierungsführung sinken, auch die Sympathiewerte gehen zurück. «Seine Werte sind wieder auf normalem, bescheidenem Niveau», sagt Matthias Jung, der Chef der Forschungsgruppe Wahlen. «Er ist im Wahlkampf kein Zugpferd gewesen und er ist auch jetzt nicht die strahlende Figur, die man sich unabhängig von der parteipolitischen Präferenz als Regierungschef wünscht.» Merz könne seine Zustimmungswerte allenfalls «durch gutes Regieren aufbessern, aber es würde Monate dauern, bis dies messbar würde».
Doch die Hürden auf dem Weg zum erfolgreichen Regieren sind zahlreich. Der Verdacht, der Merz aus der eigenen Partei in den nun anstehenden Gesprächen begleitet, lautet: Die grosse Finanzspritze und die Widerstände aus der SPD brächten seinen Reformeifer zum Erliegen, bevor er überhaupt ins Amt startet.
Indizien für diese Lesart liessen sich bereits Anfang des Monats beobachten: Schliesslich folgte auf den Befreiungsschlag, der die Verkündung des Schuldendeals darstellte, erst einmal ein Sondierungspapier von CDU, CSU und SPD, das statt grosser Reformen milliardenschwere Wahlgeschenke auflistete, wie die Ausweitung von Pendlerpauschale und Mütterrente, die Stabilisierung des Rentenniveaus oder die Absenkung der Mehrwertsteuern in der Gastronomie. Prompt warnte der Parteinachwuchs, die Junge Union, vor einer «Boomerkoalition», die Weichenstellungen für die Zukunft scheue.
Zu Einsparungen, die Merz ins Zentrum seines Wahlkampfs gerückt hatte, fand sich nur ein einziger Satz in dem elfseitigen Papier. Dieser Satz sei «ausführungsbedürftig», wie Merz nun sagte. Es wird jetzt wohl seine grösste Aufgabe sein, in den beginnenden Koalitionsgesprächen das durchzusetzen, was er vollmundig versprochen hatte: einen Politikwechsel, Reformen, die Wachstum ermöglichen, einen effizienteren Staat. Das dürfte noch hart werden: In der Steuer- und Sozialpolitik bremse die SPD kräftig, war aus den Arbeitsgruppen zu hören. Der Druck, den Merz vom wirtschaftsliberalen Flügel seiner Union verspürt, steigt.
Ähnlich sieht es in der Migrationspolitik aus. Der Streit um die von Merz versprochenen Zurückweisungen an allen Grenzen wurde mit einem Formelkompromiss im Sondierungspapier abgehandelt: Sie sollten «in Abstimmung» mit den europäischen Partnern erfolgen. Die grosse Frage, ob dies Zustimmung oder lediglich Benachrichtigung bedeutet, liess sich zwischen Union und SPD in der Arbeitsgruppe nicht klären. Merz, der seine Asylpolitik für nicht verhandelbar deklariert hatte, hat hier kaum Spielräume.
Aus dem liberalen Milieu seiner Partei wiederum wird Merz dafür kritisiert, dass nur so wenige Frauen in seiner CDU sichtbar sind. Merz und die Frauen – es ist ein Thema, das ihn seit Jahren begleitet, doch es erfährt eine neue Dynamik, seit in der vergangenen Woche die Vorsitzende der Frauengruppe der Unionsfraktion, Mechthild Heil, per Brief eine paritätische Besetzung bei nun allen zu vergebenden Posten forderte. Öffentlich beklagte Heil, man hätte sie als Baupolitikerin wegen ihres Frauseins in die Arbeitsgruppe zur Familienpolitik schieben wollen. Das passte ins Bild einer männerdominierten Merz-Union, die erst nach einem Aufschrei über ein Sechserfoto mit lauter Männern Einsicht erlangte, dass auch Frauen im zentralen Verhandlungsgremium über eine Koalition sitzen sollten.
Merz, der sich zu dieser Thematik oft unbeholfen äussert, hat es in seinen drei Jahren als Parteichef jedenfalls nicht geschafft, die CDU weiblicher zu machen – in der neuen Unionsfraktion im Bundestag ist nicht einmal jeder vierte Sitz von einer Frau besetzt.
Merz verweist nun darauf, dass Julia Klöckner ab Dienstag als Bundestagspräsidentin das zweithöchste Amt im Staat bekleiden soll – während wiederum viele in der CDU munkeln, Klöckner sei für den Posten nominiert worden, weil man ihr ein Ministeramt nicht zutraue. Wurde er in der Vergangenheit nach dem Frauenanteil im Kabinett gefragt, fiel Merz oft als Erstes die unglücklich agierende Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD, Silvesteransprache) ein. Nun sagte er: Im Kabinett werde der Frauenanteil höher sein als in seiner Fraktion. Ob das reicht?
Als Reaktion auf den Druck von allen Seiten ist Merz öffentlich vom ambitionierten Zeitplan abgerückt, bis Ostern die Regierung zu bilden. Am Wochenende räumte er zudem ein, man könne sie nicht als «grosse Koalition» bezeichnen – dafür sei sie zu klein. Gesucht werde nun ein neuer Name. Sein Generalsekretär Carsten Linnemann, der seit Längerem von einer Arbeitskoalition spricht, formulierte seinen Vorschlag am Montag noch einmal um: Schwarz-Rot müsse eine «Einfach-mal-machen-Koalition» werden. Einfach jedoch wird schon das Bilden dieser Koalition nicht, und das hat sich Merz auch selbst zuzuschreiben. Und dann kommt erst das Regieren.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.