Der polnische Aussenminister Radosław Sikorski sprach Klartext: «Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit», sagte er bei einer Rede in Berlin. Und zwar nicht kürzlich, sondern im November 2011. Also lange vor der Annexion der Krim und dem russischen Einmarsch in der Ukraine. Und vor Donald Trumps erstem Wahlsieg in den USA.
Sikorskis Aussage war bemerkenswert, denn seine Heimat hatte im Zweiten Weltkrieg entsetzlich unter dem Nazi-Terror gelitten. In seiner Rede bezog er sich weniger auf das Militärische als auf die Eurokrise, doch seine Worte sind brandaktuell. Deutschland sei eine «unverzichtbare Nation», meinte der Pole – ein Begriff, den man mit den USA assoziiert.
Seit Trumps Rückkehr ins Weisse Haus muss man wohl die Vergangenheitsform wählen, zumindest aus europäischer Perspektive. Ob beim Handel oder bei der Verteidigung – der Wüterich in Washington schreddert die 80-jährige transatlantische Allianz. Beobachter fürchten, Trump wolle Europa künftig dem russischen Einfluss überlassen.
Die Deutschen haben die Gefahr lange verdrängt. Sie wären am liebsten eine «grosse Schweiz», meinten Lästermäuler. Also ein Land, das die Friedensdividende konsumiert und von der Globalisierung profitiert. Deutschland habe sich bei der Verteidigung von den USA abhängig gemacht, bei der Energie von Russland und wirtschaftlich von China, hiess es.
Nichts davon funktioniert noch. Das zeigen die Probleme der Autoindustrie, die auf das vermeintliche Wunderland China fixiert war und nun gleichzeitig mit der dortigen Wirtschaftsschwäche und der wachsenden Konkurrenz zu kämpfen hat. Russland ist eine Bedrohung und der militärische «Schutzschirm» der USA mehr als infrage gestellt.
Dennoch harzte es mit der Zeitenwende, die Bundeskanzler Olaf Scholz nach dem Überfall auf die Ukraine ausgerufen hatte. Das «Sondervermögen» von 100 Milliarden Euro für die kaputt gesparte Bundeswehr reichte hinten und vorn nicht aus. Und die Deutschen selbst taten sich schwer mit der Zeitenwende, wie Umfragen zeigten.
So ehrenwert dieser pazifistische Reflex angesichts der blutrünstigen Vergangenheit Deutschlands sein mag – nicht nur Radosław Sikorski, der heute wieder das gleiche Amt bekleidet, findet, das einwohnermässig grösste Land Europas (hinter Russland) müsse endlich Verantwortung für den gesamten Kontinent übernehmen, auch militärische.
Das machte die Sitzung des Bundestags in Berlin vom Dienstag so speziell. Sie war «historisch», weil das Parlament in «alter» Besetzung einbestellt wurde, eine Woche bevor der am 23. Februar neu gewählte Bundestag erstmals zusammenkommt. Nötig wurde dieser «Kraftakt» wegen der Mehrheiten im neuen Parlament.
Dort verfügen AfD und Linke zusammen über mehr als ein Drittel der 630 Sitze und damit eine Sperrminorität, mit der sie Verfassungsänderungen verhindern können. Eine solche aber war nötig, um das gigantische Paket für Verteidigung und Infrastruktur an der Schuldenbremse vorbeilotsen zu können. Das ging nur mit CDU/CSU, SPD und Grünen.
Letztere zierten sich, auch weil sie im neuen Bundestag wohl in der Opposition sein werden. Erst als Union und SPD 100 Milliarden Euro aus dem Infrastrukturteil für den Klimaschutz «abzweigten», lenkten die Grünen ein. Es war der Durchbruch: Trotz Abweichlern wurde die Zweidrittelmehrheit am Dienstag mit 513 zu 207 Stimmen deutlich geknackt.
Am Freitag muss als letzte Hürde der Bundesrat zustimmen, ebenfalls mit Zweidrittelmehrheit. Diese haben Union, SPD und Grüne in der 69-köpfigen Länderkammer nicht, doch kaum jemand glaubt an ein Scheitern. Allenfalls könnte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingreifen, doch es lehnte am Montag mehrere Eilanträge gegen die Bundestagssitzung ab.
Damit dürfte der Weg frei sein für eine schwarz-rote Regierung unter Bundeskanzler Friedrich Merz. Sie startet mit einem üppigen Polster. Die «Süddeutsche Zeitung» spricht von rund einer Billion (!) Euro an neuen Schulden in den nächsten zwölf Jahren. «Die sind nur dann gut angelegt, wenn Gigantisches passiert», warnte die «Frankfurter Allgemeine».
Der Wille ist zweifellos vorhanden. Kaum jemand bestreitet den Investitionsbedarf in die marode deutsche Infrastruktur, ob Brücken, Schulen oder Spitäler. Ebenso klar ist, dass die Bundeswehr viel mehr Geld braucht. «Bedrohungslage geht vor Kassenlage», erklärte Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), Deutschlands populärster Politiker.
In der Debatte gab es neben ihm zwei Sieger: CDU-Chef Friedrich Merz hat seine erste Bewährungsprobe als designierter Bundeskanzler bestanden. Er musste in den Verhandlungen mit SPD und Grünen eine steile Lernkurve hinlegen. Kritiker meinten, der 69-Jährige, der noch nie regierte, habe den partnerschaftlichen Führungsstil von heute nicht kapiert.
Ob er Kanzler kann, wird sich zeigen. Noch steht die Koalition mit der SPD nicht. Stimmen aus der rechten Ecke verlangen, Merz solle mit den Unionsparteien eine Minderheitsregierung wagen, doch das wäre ein Himmelfahrtskommando. Sie könnte schon bei der ersten Abstimmung im Bundestag scheitern, und jede Mehrheit mit der AfD würde für einen Aufschrei sorgen.
Eine schwarz-rote Regierung ist ein Bündnis der Vernunft, im Interesse der Stabilität Deutschlands und Europas. Dafür steht auch SPD-Chef Lars Klingbeil. Der ehrgeizige 47-Jährige hatte am Dienstag im Bundestag einen staatsmännischen Auftritt, mit dem er sich als Vizekanzler empfahl, eine Rolle, für die auch Pistorius infrage kommt.
«Wir müssen Made in Germany wieder stark machen», rief Klingbeil und erinnerte fast an Donald Trump, einfach viel vernünftiger. Damit wollte er auch die Befürchtung kontern, die nötigen Strukturreformen könnten vernachlässigt werden. «Wenn viel Geld da ist, ist der Reformdruck nicht mehr da», meinte der mutmassliche neue FDP-Chef Christian Dürr in seinem vorerst letzten Auftritt.
Das Schuldenpaket lässt die Zinslast ansteigen, doch Deutschland kann es sich (noch) leisten. Sinnvoll investiert, kann es die lahmende Wirtschaft ankurbeln. Bereits wird spekuliert, dass Autofabriken wie das VW-Werk in Boris Pistorius’ Heimatstadt Osnabrück für die Produktion von Panzern und anderen Militärfahrzeugen umgenutzt werden könnten.
Mit dem vielen Geld allein sind die Versäumnisse der letzten Jahre nicht behoben. Die neuen Schulden belasten zudem die jüngeren Generationen, weshalb es Forderungen gibt, die grosse Masse der Babyboomer zur Kasse zu bitten. Und doch ist klar: Untätigkeit kann sich Deutschland nicht mehr leisten. Dafür sind die Herausforderungen viel zu gross.
Das sehe ich definitiv anders. Wir stehen am Vorabend einer Wirtschaftsrevolution. In 20 Jahren wird alles anders sein, dank KI und Robotern. Diese Schulden sind eine Investition in die jüngeren Generationen.