Für das russische Militär geht die Kursk-Operation der Ukrainer ähnlich zu Ende, wie sie angefangen hat: mit einer dreisten Lüge. Als ukrainische Truppen vergangenen August die russischen Grenzposten westlich der Stadt Sudscha überrannt hatten, meldete sich der Armeechef Waleri Gerassimow. Es handele sich nur um einen kleineren Angriff einer Spähtruppe, behauptete er. Nach wenigen Stunden sei der Angriff bereits gestoppt worden.
Aus den Stunden wurden sieben Monate. So lange hat Russlands Armee gebraucht, um die Ukrainer aus dem Kursker Grenzgebiet zu vertreiben. Momentan führen ukrainische Einheiten letzte Rückzugsgefechte, die meisten von ihnen haben das russische Territorium bereits verlassen. Doch das reicht der russischen Führung nicht. Laut ihrer Darstellung seien derzeit Tausende ukrainische Soldaten eingekreist. Militärexperten gehen fast einstimmig davon aus, dass diese Behauptung erneut eine Propagandalüge ist.
Aber auch auf ukrainischer Seite versucht die Führung, den Rückzug aus Kursk in nette Worte zu verpacken. «Die Operation hat ihr Ziel erreicht», erklärte Präsident Wolodymyr Selenskyj am Wochenende in der Hauptstadt Kyjiw. Dadurch seien andere Frontabschnitte in der Region Charkiw und im Westen des Donbass stabilisiert worden. Selenskyj bedankte sich für den «heldenhaften Einsatz» seiner Soldaten.
Tatsächlich jedoch fällt die Bilanz der Kämpfe für beide Seiten durchwachsen aus. Die ukrainische Armeeführung hat in den sieben Monaten keine klaren strategischen Ziele definiert. Diese wurden stattdessen immer wieder neu formuliert. Ursprünglich bezeichnete Selenskyj die Operation als Präventivschlag. Dieser sollte einem russischen Angriff auf die Region Sumy zuvorkommen. Als der Vorstoss nach Kursk ausgeweitet werden konnte, schwenkte Selenskyj auf ein neues Argument um. Russland sei gezwungen, Truppen von anderen Abschnitten nach Kursk abzuziehen. Das wirke sich insgesamt positiv für die ukrainischen Verteidiger aus. Schliesslich erklärte der ukrainische Präsident den besetzten Teil des Kursker Gebiets im Februar zu einem Trumpf in den künftigen Verhandlungen mit Russland.
Parallel zu diesen Punkten behauptete die ukrainische Militärführung wiederholt, dass die russischen Verluste in Kursk um ein Vielfaches höher seien als die der Ukraine. Allein deshalb soll sich die Operation gelohnt haben.
Zweifelsfrei erreicht wurde von den genannten Zielen wohl aber nur eines. Tatsächlich verlegte Russland spätestens ab Januar besonders schlagkräftige Brigaden und Drohneneinheiten in das Kursker Gebiet. Von da an wurde die Situation für die Ukrainer in Kursk mit jedem Tag bedrohlicher. Parallel dazu ist der russische Vorstoss auf die wichtige Stadt Pokrowsk im Westen des Donbass zum Erliegen gekommen. Gleichwohl haben russische Truppen in den Monaten zuvor wichtige Stellungen der Ukrainer erobert, etwa die Städte Wuhledar, Welyka Nowosilka, Selidowe und Kurachowe. Diese Gebiete bleiben nun unter russischer Kontrolle, während sich die Ukraine aus Kursk zurückzieht.
Als Trumpf jedenfalls wird die Ukraine das Kursker Gebiet nicht mehr einsetzen können. Auch das Argument der angeblich vielfach höheren russischen Verluste hält einer genaueren Überprüfung nicht stand. Zumindest im Bereich Technik ist der Vorteil nur knapp auf ukrainischer Seite. In den vergangenen sieben Monaten hat die ukrainische Armee mindestens 632 Fahrzeuge, Panzer und Haubitzen verloren. Die russischen Verluste liegen mit 712 nur knapp höher. Das geht aus Analysen hervor, die auf offen verfügbaren Quellen basieren, etwa auf geolokalisierten Aufnahmen aus der Region Kursk. Der Vorteil ist um ein Vielfaches geringer als an anderen Abschnitten der Front, wo die russischen Technik-Verluste oft doppelt oder gar dreimal so hoch ausfallen wie die ukrainischen.
Jetzt warnt die ukrainische Regierung obendrein vor einer bevorstehenden Offensive in die ukrainische Region Sumy, die unmittelbar an die russische Oblast Kursk grenzt. Russland ziehe seine Truppen für einen neuen Angriff zusammen, schrieb Selenskyj am Samstag auf X. Sollte dies tatsächlich zutreffen, dann wäre auch der ursprünglich von der Ukraine behauptete Präventivschlag in Kursk gescheitert. Schliesslich könnten russische Truppen ihr Momentum nun nutzen und in die Ukraine vordringen.
Tatsächlich wirkt eine russische Sumy-Offensive zum jetzigen Zeitpunkt wahrscheinlicher als noch unmittelbar vor der Kursk-Operation. Damals hatten ukrainische Einheiten die russischen Linien überrollt, weil diese grösstenteils mit Wehrdienstleistenden bemannt waren. Die russischen Kommandeure zogen es vor, sich zu ergeben, statt den Tod von Tausenden jungen Soldaten in Kauf zu nehmen. Hinweise auf eine damals bevorstehende Offensive der Russen gab es keine.
Jetzt aber konnten einzelne russische Verbände bereits einige Grenzdörfer in der Oblast Sumy besetzen. Russland verfügt zudem über schlagkräftige Verbände in unmittelbarer Grenznähe, die im Kampf gegen die ukrainischen Einheiten in Kursk schnell vorgerückt sind. Der russische Präsident Wladimir Putin hat bereits bei seinem Besuch in Kursk vergangenen Donnerstag angeregt, eine sogenannte Pufferzone im Grenzgebiet einzurichten. Wie weit diese gehen könnte, liess Putin offen.
Aus russischer Sicht könnten mehrere Argumente für einen Angriff auf Sumy sprechen. Zum einen dürfte die Armeeführung verhindern wollen, dass die aus Kursk abgezogenen ukrainischen Soldaten an einen anderen Frontabschnitt verlegt werden können. Der Druck muss also aufrechterhalten werden. Zum anderen befindet sich die Regionalhauptstadt Sumy nur etwa 35 Kilometer von der Grenze entfernt. Sie wäre zumindest ein realistisches Ziel. Für die Ukraine wäre ein Verlust ein herber militärischer Schlag. Und er würde die Moral der Armee und auch der Bevölkerung nachhaltig beschädigen.
Andererseits wäre ein grösserer Angriff auf Sumy auch mit Risiken verbunden. In Kursk waren die ukrainischen Truppen im Nachteil, weil sie nur wenige Routen zur Versorgung nutzen konnten. Das wäre in der Gegend zwischen der Grenze und der Stadt Sumy nicht mehr der Fall, weshalb die Verteidigung hier standhafter sein dürfte. Zum anderen ist völlig offen, wie US-Präsident Donald Trump darauf reagieren würde. Zuletzt hat es Putin geschafft, die USA in Gespräche zu verwickeln. Das zwischen den USA und der Ukraine verhandelte Angebot einer 30-tägigen Waffenruhe hat Putin zwar faktisch abgelehnt. Er liess jedoch einen künftigen Kompromiss zu, sollten die USA ihre Waffenlieferungen an die Ukraine erneut einstellen. Trump wiederum bezeichnete die Gespräche mit Russland als konstruktiv. Es ist zumindest fraglich, ob Putin diese Annäherung jetzt gefährden würde.
Ein zweites Argument gegen einen Grossangriff auf Sumy: Im Donbass sind die russischen Einheiten nach einer fast ein Jahr andauernden Offensive ausgelaugt. Sie brauchen dringend Verstärkung, um nicht endgültig in die Defensive zu geraten. In den vergangenen beiden Wochen waren die russischen Fortschritte hier minimal. Und die Soldaten aus Kursk könnten wieder Bewegung an diesen Abschnitt der Front bringen. Am Ende liegt es an Putin, sich für eine dieser Optionen zu entscheiden.
Transparenzhinweis: In einer früheren Version des Artikels hiess es, dass die russischen Verluste an Fahrzeugen, Panzern und Haubitzen in Kursk 632 Stück betragen. Tatsächlich geht es um ukrainische Verluste.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.
Erstmals seit dem 2. Weltkrieg wurde Kreml-Territorium durch ausländische Truppen besetzt.
Der Russischen Armee ist es nicht gelungen, diesen vergleichsweise kurzen Abschnitt der Landesgrenze im Konfliktgebiet zu überwachen und zu sichern.
Ein Zurückdrängen des Gegners mit konventionellen Mitteln nahm mehrere Monate in Anspruch.
Nukleare, chemische oder biologische Waffen wurden hier - zum Glück - nicht von Putin eingesetzt.
Durch Kursk konnte viel über die Russische Armee gelernt werden.